Rezension Joachim Kersten:
Gut und (Ge)schlecht. Männlichkeit, Kultur und Kriminalität.
Berlin / New York: Walter de Gruyter 1997. 216 S. (= Materiale Soziologie, TB 7)
ISBN 3-11-015445-5.

Hier liegt uns ein sehr komplexes Werk vor, das in vieler Hinsicht als "Pionierarbeit" gelten darf. Durch die naturgemäß nötige Reduktion dieser Komplexität in der besprechenden Wiedergabe und Lesezeugenschaft muß in Kauf genommen werden, daß nur ein simplifizierender und vergröbernder Inhaltsüberblick möglich ist.
In drei großen Schritten bzw. Buchteilen gelangt Kersten von der Kritik herkömmlicher Kriminalitätstheorien (insbesondere deren "Geschlechtsblindheit") über die Grundlegung eines Kulturvergleichs in bezug auf Geschlechterverhältnis, Männlichkeiten und Abweichung zu einer konkreten Beschreibung zweier (Männlichkeits-)Kulturen (Australien, Japan) und deren divergenter Kriminalität. Diese durch Feldaufenthalte unterfütterte Deskription birgt interessante Konsequenzen sowohl für kulturvergleichende wie für kriminalsoziologische Theorien, die über das ganze Buch verteilt, immer wieder ihre kritischen Seitenhiebe abbekommen. Darin liegt denn auch die Stärke dieses Werks.
Es muß dem Autor bescheinigt werden, daß er es bestens versteht, die wichtigsten Theoreme aus komplexen Theorien zu destillieren, konzis zu präsentieren und die Schwachpunkte klar zu orten. Dies gilt in ausgezeichneter Weise für den ersten, theoriekritischen Teil, der davon ausgeht, daß die Tatsache, daß Kriminalität sowohl auf seiten der Verübung wie Kontrolle "männerdominiert" ist, nicht hinreichend bzw. z. T. überhaupt nicht theoretisch erfaßt ist. Des Autors Anspruch ist explorativ-deskriptiver Natur und nicht auf eine "neue" allgemeine Theorie von Kriminalität abzielend. Entwürfe einer general theory of crime werden nachgerade auf ihre Unzulänglichkeiten hin abgeklopft. Ins Kröpfchen kommt z. B. Braithwaite (1989), der sich explizit auf Japan bezieht, hingegen mit seinem Konzept einer "reintegrierenden Schamkultur" nicht plausibel machen kann, daß ebendort eine organisierte Unterwelt, Wirtschaftskriminalität und strukturelle Korruption enormen Ausmaßes existiert. Dies auch als später im Buch wiederholtes Korrektiv zum Bild Japans als "öffentlichem Sicherheitsparadies". Eine historische Revue gängiger Theorien (Anomie, Labelling approach, Kontrolltheorien ...) erweist, daß keine die Überrepräsentanz von männlichen Tätern im Bereich der Schwer- und Gewaltkriminalität erklären kann. Überdies verbergen sich in diesen nicht selten essentialistische Annahmen über Geschlechter und entsprechende dichotome Polarisierungen, die sich wiederum gerade aus kulturübergreifender Optik als nicht haltbar erweisen. Analoge Fehlannahmen finden sich selbst in der feministischen Literatur, die zudem oft einen weißen Mittelschichtfeminismus verabsolutiert, eine manichäische Tendenz zur Dämonisierung des Mannes aufweist und insgesamt sowohl inter- wie intrakulturell eine zu undifferenzierte, wenn nicht schwarzweiße Sicht vertritt. Sie versagt etwa bei Erklärungen von Gewalt unter Frauen und klassenbedingter oder interethnischer solcher (grob gesagt: weiße Herrin, schwarze Sklavin). Nichtsdestoweniger ließen sich einige feministisch inspirierte Impulse übernehmen, dies gilt auch für die sich anschließenden Reflektionen über "Kriminalität als Auseindersetzung von Männlichkeiten".
Die Bezugspunkte bei der Herstellung von Männlichkeiten (nach GILMORE 1990) sind: Nachwuchs, Schutz, Versorgung (procreation, protection, provision). Inhaltlich werden diese kulturell verschieden interpretiert und die jeweils "legitime" Interpretation konstituiert innnerhalb einer Kultur entsprechende hegemoniale und subordinierte Männlichkeiten. Stichwortartig versimpelt steht etwa in frontier societies die Betonung von Unabhängigkeit, in Japan dagegen der Gemeinschaftbezug im Vordergrund; was dort als reif gilt, kann hie als pubertär aufgefaßt werden und umgekehrt. Korrespondierende Leitbilder wirken nolens volens prägend. Kriminalität hat Gegenbilder in "gefährlichen Männlichkeiten" (z. B. Sexualtäter, Amokschützen, parasitäre Gangster), die es zu kontrollieren und dominieren gilt. Dabei komme es zu unterschiedlichen Praktiken bei kulturellen Differenzen in der Männlichkeitskultur, d. h. im Geschlechterverhältnis, und in der Folge führe dies zu unterschiedlichen Ausprägungen von Kriminalität. Diese Annahme wird nach einem historischen Exkurs zur Verbannung der Frau ins Haus und der (immer noch) hegemonialen Position des Mannes in Wirtschaft, Politik, Wissenschaft und Kultur und seiner legitimen "Schutzmacht" qua Polizei, Strafrecht, Militär sowie der Definitionsmacht bei sexuellen Praktiken (in der Regel: normative Heterosexualität) zur Hypothese verdichtet:
Der kulturelle Einfluß der normativen Orientierungen, basierend auf der jeweils kulturell dominanten Gestalt von Ernährer-, Beschützer- und Erzeugermännlichkeit findet auch in den jeweiligen Konstrukten abweichender und "gefährlicher" Männlichkeit eine Entsprechung. [...] Wandel in den Bereichen Arbeit, Familie und in den gesellschaftlichen Institutionen, in den Möglichkeiten und Grenzen des Schutzes der Gemeinschaft schlägt auf Konstruktionen "richtiger" und eben auch "gefährlicher" oder "nutzloser" Männlichkeit in den Vergleichsländern durch. (im Original kursiv: S. 66f.).
Daran schließt sich eine Beschreibung des japanischen Geschlechterverhältnisses im Kulturvergleich an. Auch hier hat die Kritik an bestehenden Modellen Vorrang vor der Präsentation eigenständigen Materials. Harsch planiert wird Hofstedes (1991) metrisch-quantitativer Versuch eines Kulturvergleichs. Von binären, dualistischen Wertigkeiten, zirkulären Definitionen, defizientem Sample, essentialistischen Vorannahmen bis zu Ergebnissen, die ethnographischen Befunden widersprechen, findet sich so ziemlich alles, was die Seriosität einer wissenschaftlichen Studie untergraben kann. Nicht unähnlich wird Gilmore kritisiert, der fehlerhaftes Material für überzogene Interpretationen aus westlichem Blick heranziehe. Dieser wird unter Rückgriff auf Shimada (1994) zurechtgerückt. Es finden sich längere Passagen, die den anderen Stellenwert von Sexualität in Japan verorten, wobei diesem nicht mit westlichen Moralvorstellungen adäquat beizukommen ist. Anhand anderer Sekundärliteratur wird das Bild der geknechteten Frau ebenso berichtigt, wie auf die "maternelle" Prägung, zwischenmenschlich-emotionale Kontextsensibilität und "harte" Männlichkeit eher marginalisierende Momente der japanischen Gesellschaft hingewiesen wird.
Im folgenden, schon siebten Kapitel demonstriert Kersten anschaulich und eindrucksvoll die soziale und literarische Konstruktion des australischen "Mannsbildes" von der Zeit als Sträflingskolonie bis zu den opferreichen Weltkriegseinsätzen. Vom bush- oder swagman, der Unabhängigkeit und Kameradschaft (mateship) hochhält zum digger (ursprünglich Goldgräber, dann auf die Soldaten übertragen) und zu den Buschbanditen (bushrangers) zieht sich ein (blut)roter Faden durch die Mythenbildung, die im Bild des Mannes der Zukunft (coming man) kumuliert und eine eigen- bis einzigartige Männlichkeit erfindet, bei der ureigentliche Erbärmlichkeit in Heroismus umgedeutet wird. Homophobie, Rassismus, Staatsgewaltskepsis, Herabwürdigung der Frau bilden ein Amalgam, dem eine unschöne Portion Gewalt beigemischt wird. Dieses Kapitel zeigt bilderreich und exemplarisch wie ein Unterklassenstatus und Unterlegenheitsgefühl (gegenüber der englischen Oberschicht, dem Mutterland etc.) in Autonomie und Überlegenheit umdefiniert wird - eine psychische Dynamik, die sich anderswo bei strukturell homolog Benachteiligten wohl auch finden ließe.
Obschon sich also in Australien ein historisch gewaltbesetztes Geschlechterverhältnis zeigt, werden körperbetonte Männlichkeitsentwürfe durch den sozialen Wandel obsolet. Deren Darstellung, Kontrolle und Demonstration in devianter Form geschieht über Sexualdelikte, bei denen Australien im Vergleich mit Deutschland und insbesondere mit Japan extrem hohe Raten aufweist. Dieser interkulturelle Vergleich ist sorgfältig reflektiert, betrifft aber nur die (statistisch) sichtbar gewordene Gewaltkriminalität, insbesondere das Delikt der Vergewaltigung. Dabei erweist sich auch bei Mediensichtbarkeit (Reportagenhäufigkeit), Skandalisierung und Heftigkeit der politischen Diskussion, daß Australien hier besonders stark negativ auffällt. Die kontrafaktische Obsession bezüglich einer bedrohlichen Fremdtäterschaft (stranger-danger) verdecke alltägliche Gewaltverhältnisse, das korrespondierende Feindbild mobilisiere den Bedarf an hegemonialer Männlichkeit.
Die Beschreibung tugendhafter Männlichkeiten in Japan dient als Folie für das sich daran angliedernde Kapitel über die dortigen männlich dominierten Kriminalitätsprobleme. Als kulturell dominante Männlichkeitsbilder werden der Samurai und sararîman (der Angestellte oder disziplinierte "Firmenkrieger") ausgemacht. Nach einem historischen Abriß werden Bedingungen für die soziale Textur Japans genannt wie: Reisbaukultur, rigides Erziehungssystem, hartes Zeitregime, selbstaufopfernde Einbindung ins Unternehmen und dergleichen. Auf Symptome eines gegenwärtigen (Werte-)Wandels wird knapp verwiesen.
Die Schilderung der Kriminalitätssituation in Japan ist akkurat und ausgewogen und korrigiert einige hartnäckig kursierende Images, so etwa das der Polizeibeamten als makellose, einfühlsame Bürgerdiener. Drei Momente interessieren den Autor: die Makrokriminalität im Zweiten Weltkrieg (z. B. Nanking-Massaker, das jûgun ianfu-Problem = Zwangsprostitution in Feldbordellen, brutale Behandlung Kriegsgefangener), die geringe "Normalkriminalität" im Nachkriegsjapan und die Existenz eines ausgeprägten Außenseiter- und Gangstermilieus. Die geringe Sichtbarkeit von Straßenkriminalität und auch von Gewalt gegen Frauen in Japan hat Modernisierungs- oder Urbanisierungstheorien immer wieder herausgefordert - selbst wenn erhebliche Zweifel an den offiziellen Daten, wie sich der Autor auch bewußt ist, in der Tat angebracht sind. Kersten hat sich in seiner Zeit "im Feld" vornehmlich um jugendliche Gangs und Motorradrocker (bôsôzoku) "gekümmert". Ein verpaßter oder verpatzter Übergang zur Oberschule (im Alter von 15-16 Jahren) stellt sich als stark devianzfördernd heraus. Jugendlichenbanden sind zugleich ein Rekrutierungspool für die Yakuza, die Organisierte Kriminalität Japans. Für deren Etabliertheit werden mehrere Faktoren genannt: wirtschaftliche und legale, d. h. Yakuza agieren als Dienstleistungsunternehmen und Rechtsanwaltsalternative; soziale meinen die Yakuza als Auffangbecken für Diskriminierte jeglicher Couleur und schließlich politische, die die dichten Verbindungen ins konservative bis rechtsextreme Lager umschreiben.
Als Gründe für die allgemein niedrige Kriminalität werden u.a. aufgezählt: non-konfrontatives Verhalten in Referenzgruppen, maternelle Prägung der Alltagskultur, dichte informelle Kontrolle (von Yoshio Sugimoto als "freundlicher Autoritarismus" bezeichnet), Gelegenheitsmangel aufgrund der hohen zeitlichen Anforderungen in Schul- und Berufsleben. Nicht aufgrund einer "anderen Männlichkeit" ergeben sich andere soziale Klimata der Abweichung und sozialen Kontrolle, wie Kersten im elften und zusammenfassenden Kapitel bemerkt, sondern aufgrund von sozialen Strukturen und kulturellen Faktoren, die er auch zu beschreiben versucht hat. Eine kausale Verbindung zwischen Männlichkeit und Kriminalität ließe sich kulturübergreifend nicht absehen. Kriminalität junger Männer erweise sich nicht selten als risikohafte Bewerkstelligung von Geschlecht als letzter Ressource von Selbstwert. Soweit meine freilich stark diluierende Inhaltswiedergabe.

Wie der Danksagung zu entnehmen ist, dürfte es sich bei vorliegender Schrift um eine Habilitation, ein entsprechendes Projekt oder ein daraus hervorgegangenes Buch handeln. Dafür ist es erfreulich flüssig zu lesen, wenngleich Basiskenntnisse in Soziologendeutsch unabkömmlich sind. Herausgeberisch hätte sich ein sorgfältigeres Lektorat empfohlen, es gibt nicht wenige Druck- oder Setzfehler, Indizes welcher Façon auch immer fehlen überhaupt, im Japanischen ist der Autor nicht firm, jedenfalls nicht in dessen Transkription. Obwohl generell auf Vokallängungen verzichtet wird, heißt es plötzlich in einer anglo-"japanischen" Mischumschrift service zangyoo (S. 158; nach der üblich(st)en Hepburn-Umschrift lautete es: sâbisu zangyô), auch die anglisierende Pluralform sarariimen auf derselben Seite ist unüblich, eine germanisierende arubeito (S. 172) würde zu einer anderen als intendierten Aussprache führen und heißt daher richtig arubaito; Konsonantenhäufungen, wo sie nicht hingehören, können schlimmstenfalls den Sinn gehörig verändern oder entstellen, etwa bijinessu (S. 66) statt bijinesu, kurabbu (S. 87) für kurabu, Daigakku (S. 154) statt daigaku, rangakku (S. 162) für rangaku. Das misu (! heißt auch "Fehler", Freud sei's geklagt) vor shôbai wird zwar als Fremdwort für Miss verwendet, dennoch heißt das Schank- und (sexuelle) Vergnügungsgewerbe mizu shôbai, in dem sich der Autor nicht auskennt oder nie umgesehen hat, denn die sogenannten Hostessen sind nicht für sexuelles (manuell-orales) Fast food zuständig wie auf S. 92 angegeben, auch entsprechen sie nicht "der westlichen Fantasie der geisha", sollte darunter eine Prostituierte verstanden sein. Hostessen sind Bar- oder Animierfrauen, die unter ausgesuchten Kunden, wenn überhaupt, eher eine Art Patronats- oder Sponsorverhältnis eingehen. Für die Frauen in den heute sôpu rando (originell mit "Badebordell" übersetzt) genannten Etablissements (die früher toruko, nicht turuku, S. 92, hießen) gibt es eigene Bezeichnungen. Wozu man für die Übersetzung von sodai gomi einen Sack braucht, ist mir nicht einsichtig, es heißt schlicht "Sperrmüll". Nicht einmal das wohl am häufigsten in westlicher Literatur über Japan zitierte Sprichwort vom herausragenden und deshalb einzuhämmernden Nagel wird korrekt wiedergegeben, der Nagel heißt kugi und nicht kui, das anschließende Partikel wa ist ein eigenständiges Wörtchen und gehört daher abgesetzt (S. 81).

Daß der Begriff "bushodisieren" (zitiert nach GILMORE auf S. 95) eigenartig ist, ist für mich nachvollziehbar, wahrscheinlich ist darunter "bushidô-isieren" gemeint, ein Prozeß, der allgemein als "Samuraisierung" der japanischen Gesellschaft Ende des 19. Jahrhunderts (also in der Meiji-Zeit) bezeichnet wird. Darunter versteht man die Verbreitung der Ideale der Oberschicht in die Gesamtgesellschaft hinein, regionale Traditionen (z. B. die Rolle der Frau betreffend) wurden dabei nicht berücksichtigt und die Stilisierung des Gruppenethos zur Spitze getrieben. Das hätte Kersten durchaus näher interessieren können, vor allem im Hinblick auf die Erfindung korrespondierender Traditionen und Wertekodizes. Funktional entsprach zudem der numerisch immer sehr klein gebliebene Samurai-Stand den heutigen Bürokraten und Ministerialbeamten, deren Elite aus der Schiene Universität Tôkyô/Juristische Fakultät hervorging. Warum sollten nicht diese - und sind es u.a. auch - das "Leitbild" vieler erziehungsversessener Mamas sein, statt dem faden sararîman, dem in wirtschaftlich unsicheren Zeiten wie diesen (auch als symbolischer "Leitwährung") übel mitgespielt wird? Und hier liegt mein Problem mit dieser Studie. Wenn für Japan der Samurai und der Firmenangestellte als die dominanten Männlichkeitsleitbilder deklariert werden, erhebt sich bei mir instinktiv ein Klischeeverdacht, der auch durch eine virtuose Beschreibung und Einbettung in den kulturellen Kontext, wie sie von Kersten vorgeführt werden, nicht beschwichtigt wird. Die Belege für seine Leitbilderwahl bezieht der Autor ja ausschließlich aus der Sekundärliteratur, und sie bleiben deshalb spekulativ. Bei der Auswahl der Kronzeugen verstärken sich meine Zweifel an der Verbindlichkeit dieser Leitbilder, die sicher einer empirischen Absicherung via Umfragen, Interviews etc. bedürfte. Da wird die alte Leier vom homogenen Inselvolk herbeizitiert (S. 68), für die "maternelle" Prägung der Alltagskultur wird der Aufbau des Schriftzeichens für "Mutter" bemüht - umsonst die Müh', denn wie soll ein Piktogramm chinesischen Ursprungs und Importgut ein vermeintlich japanisches Charakteristikum erklären? Auch die 90 %ige Selbstzurechnung der Bevölkerung zur Mittelschicht im heutigen Japan (S. 51) ist schon derart massiv hinterfragt und als "Phantom" bezeichnet worden, daß sie kaum mehr unkommentiert zitabel ist.

Hat die "Eindeutigkeit", mit der die Leitbilder für Japan und Australien präsentiert werden, auch ein wenig mit Exotismus zu tun? Wird der Blick in die Ferne unscharf, frage ich mich, auch deshalb, da Deutschland, das als drittes Vergleichsland deklariert wurde, nur für die kriminalstatistischen Komparationen herangezogen wird. Was könnte man mit analoger globalisierender Souveränität als kulturell dominantes Männlichkeitsleitbild in Deutschland ausgeben? Den wilden Germanen? Den Dichter und Denker? Pardon, aber hier sind wir im Vergleich zum Falle Japan nicht weit vom Samurai entfernt. Auf die deviante Variante des häßlichen Nazi wird via Fußnote (S. 70) verwiesen. Müßte man indessen nicht in gut soziologischer Manier Alterskohorte, Region, Stadt-Land-Differenz, Schichtzugehörigkeit, Bildungsstand, Wandel über die Zeiten und vieles mehr berücksichtigen, um dann allerdings nur partiell gültige Männlichkeitsleitbilder auszumachen. Und wieso sollte dies nicht auch für Japan gelten, in dem zweifellos ebenso eine Pluralisierung stattfand und -findet. Aber diesen Leitimages kommt ohnedies nur ein symbolischer Wert zu, und sie sind auch nur ein Moment im soziokulturellen Gesamtdispositiv, das von Kersten weitgehend stimmig decodiert wird. Nur noch ein unstimmiges Detail: Mit der neuen Gesetzeslage gegen Yakuza sind nicht "einige der großen Dachorganisationen ... illegal" (S. 180). Das neue Gesetz erlaubt lediglich die "Designation" einer "gewalttätigen Gruppe" (das ist der gängige Terminus für Yakuza-Syndikate und mit entsprechenden verbalen Verbindungen auch für Extremistenorganisationen), die dann als shitei bôryokudan betitelt wird. Daraufhin kann bei gewissen gewaltkonnotierten Interventionen in Zivilangelegenheiten (das sind die minbô-Aktivitäten, nicht mimbo (!), S. 180) Angehörigen dieser shitei bôryokudan ein Einstellungsbefehl in bezug auf das konkrete Delikt ausgestellt werden. Mitgliedschaft in bzw. kriminelle Organisationen per se sind nicht illegalisiert, womit auch das neue Gesetz relativ zahnlos bleibt.

Übrigens finde ich die im Text zitierten Bunri 1993, Mae 1996 und Dörmann 1991 nicht im Literaturverzeichnis, das auch seine originellen Seiten hat. Bei Zeitschriftenartikeln finden sich die nackten Seitenzahlen, bei Buchbeiträgen pp. ..., bei Zeitungsberichten manchmal Seitenangaben, manchmal nicht. Bei Angabe der Quelle eines Artikels in einer Anthologie wird mit a. a. O. gearbeitet, obwohl das mit Autor, Publikationsjahr und Seitenzahlen viel leichter ginge, Verlage tauchen durchwegs vor dem Erscheinungsort auf; Kuriosa gewiß, die in ihrer konsistenten Durchführung jedoch kaum beanstandbar sind.

Insgesamt gesehen handelt es sich um eine verdienstvolle und richtungweisende multi- und interdisziplinäre Studie, die sowohl bisheriges Terrain sondiert, wie neues erschließt. Der Autor zieht eine Fülle von Theorien aus Kriminologie, feministischen Studien, Anthropologie, Japanologie, (Kultur-)Geschichte, Soziologie etc. zu Rate und öffnet mit synoptischem Blick eine enorm weite Perspektive.
Die bedarf da und dort vielleicht noch einer Feineinstellung, hingegen ist die Verbindung der weitreichend auf Messerschmidt (1993) zurückgehenden Kritik an kriminalsoziologischen Theorien mit kulturvergleichenden Modellen und konkreten Fallbeschreibungen ein gigantisches Projekt und Werk, das für viele Disziplinen und Fragestellungen Anregungen enthält.
Kerstens Buch wird man hinfort in der kriminologischen Theoriebildung, in den gender studies und den komparativen Kulturwissenschaften nicht übergehen können.

Zitierte Literatur

  • BRAITHWAITE, John: Crime, Shame and Reintegration. Cambridge / New York / Melbourne: Cambridge University Press 1989.
  • GILMORE, David: Manhood in the Making - Cultural Concepts of Masculinity. London: Yale University Press 1990.
  • HOFSTEDE, Geert: Cultures and Organisations - Software of the Mind. Maidenhead: McGraw-Hill 1991.
  • MESSERSCHMIDT, James W.: Masculinities and Crime - Critique and Reconceptualization of Theory. Lanham, Maryland: Rowman & Littlefield 1993.
  • SHIMADA, Shingo: Grenzgänge-Fremdgänge. Japan und Europa im Kulturvergleich. Frankfurt a. M. / New York: Campus 1994.
Wolfgang Herbert, Kobe