Wolfgang HERBERT

 

Horitsune II – Ausstieg aus dem System

 

     Ein junger Mann in Tokyo. Anfang zwanzig, verkrachter Kunststudent, von der "inhumanen Kälte der Megalopolis abgestoßen", wie er rückschauend sagt, schlägt sich mit Gelegenheitsarbeiten durchs Leben. Er kommt aus der weit im Süden Japans gelegenen Insel Kyûshû. Um sich dem Studium der bildnerischen Künste zu widmen, hat er den weiten Weg in die Hauptstadt angetreten. Der verschulte Betrieb am College hingegen raubt ihm bald alle Illusionen. Er bricht sein Studium ab und jobbt einstweilen ziellos vor sich hin. Die Leidenschaft jedoch für die Malerei, das Gestalten, glimmt unauslöschlich in ihm weiter.

      Er ist gerade Lastwagenfahrer und fährt Schutt auf Abfallhalden. Eines schwülen Sommertages labt er sich an einem Brunnen. Ein Kollege entsteigt seinem LKW und macht Anstalten, sich zu waschen. Er zieht sein verschwitztes T-Shirt aus und spritzt sich Wasser über den Rücken. Der schillert vielfarbig in der gleißenden Sonne. Er hat eine großflächige Tätowierung, die den kunstsinnigen Akimitsu Yôsuke, unseren Kunststudenten, restlos fasziniert. Er ist hingerissen, geblendet, verloren und gewonnen. Verloren für die traditionellen schönen Künste, gewonnen für die in Japan immer noch ziemlich verpönte Kunst des Hautstichs. "Daß man derart präzise und farbenprächtige, dreidimensionierte Bilder auf die Haut eines Menschen 'malen' kann, habe ich bis dahin nicht geglaubt. Ich habe dieses Tattoo gesehen und gewußt, das ist meine Sache, mein Lebensweg", erzählt Horitsune, wie er heute mit seinem Künstler- oder Meisternamen heißt, später. Vorerst besorgt er sich, elektrisiert durch das Hautbild, alle erhältliche Literatur zum Thema Tatauierung. Er stöbert in Antiquariaten, geht in Bibliotheken, durchforstet Magazine. Unter seinen Schätzen, die er erwirbt, befindet sich auch das nur zwei Mal (1936 und 1956) in tausendfacher Auflage erschienene Bunshin hyakushi von Tamabayashi Haruo. Diese minutiöse historische Studie der japanischen Hautstichkunst schätzt er bis heute und empfiehlt sie jedem Novizen zur eingehenden Lektüre.

     Aber Horitsune bleibt nicht bei der Theorie stehen. Nach den Angaben des oben genannten Buches stellt er sich selber Tätowierstäbe her, an die er Nadeln verschiedener Anzahl befestigt. Für feine Linien können das fünf, sechs sein, für großflächige Kolorierungsarbeiten bürstenpinselartig bis zu vierzig. Er besorgt sich Tusche und beginnt zu experimentieren. "Früher hieß es, man solle drei Tage alten Rettich verwenden. Der habe dieselbe Konsistenz wie die Epidermis. Aber mir war das zu langweilig. Ich habe sofort an meinen Beinen begonnen zu stechen," meint Horitsune amüsiert und schiebt seine Hosenbeine hoch. Tatsächlich sind seine Ober- und Unterschenkel mit halbfertigen, teils einfärbig flächigen, teils umrißlinienhaften Bildchen übersät. "In unserem Gewerbe ist das ein Ausweis für fleißiges Training. Je mehr Patchwork und Pasticcio, desto besser. An den Beinen erkennt man sie, die Tätowierer." Sein Oberkörper jedoch wurde von seinem Meister in traditioneller Manier kunstvoll hautverziert. Mittlerweilen verheiratet, verbrachte Horitsune seine freien Stunden hingebungsvoll mit seinen Hautdekorationen. Seine Frau, die das, man erlaube mir diesen Ausdruck, nicht mit ansehen konnte, meinte: "Suche dir jemanden, zu dem du ordentlich in die Lehre gehen kannst, so geht das ja nicht weiter." Er folgte ihrem Rat und ging nach Osaka, Kuromon Ichiba. Das ist ein seit Jahrhunderten bestehender großer Markt, in dessen Umfeld mehrere Tätowierer arbeiteten. "Willst du ein Tattoo, geh' nach Kuromon", war ehedem ein geflügeltes Wort. Heute ist Horitsune der letzte Tätowiermeister, der dort stationär arbeitet.

     Horitsune begab sich also auf die Suche und wurde fündig. Er bat den von ihm als seinen künftigen Meister auserkorenen Hautbildkünstler inständig um Aufnahme als Lehrling. Und wurde abgelehnt. Das gleich mehrere Male. Aber er ließ nicht locker. Vorerst ging er als Kunde zu Horitsune I (er selber wurde später der Zweite in der Meisterlinie, also genau genommen Horitsune II). Er ließ sich den Rücken, die Oberarme und die Brust stechen. Dabei schaute er aufmerksam und angespannt zu, um mit den technischen und handwerklichen Einzelheiten vertraut zu werden. Der Meister schien sein echtes Interesse zu spüren und an ihm Gefallen zu finden. Schließlich akzeptierte er ihn als seinen Schüler. Die vorherigen Abweisungen waren vergessen. Sie gehören auch nahezu zum "Ritual". Ein Meister-Schüler-Verhältnis im asiatischen Kontext ist, wenn man so will, eine "totale Institution". Eine Rund-um-die-Uhr-Geschichte, die Hingabe und Bereitschaft zu absolutem Gehorsam fordert. Aber Horitsune II hatte sich buchstäblich mit Haut und Haaren dem Gewerbe verschrieben.

     Zunächst hieß es, kleine Dienste, Handreichungen und dergleichen zu verrichten. Und warten. Tusche anreiben, Gerät reinigen, Studio auf Hochglanz bringen, zuschauen. Es dauerte Monate, bis (noch) Akimitsu Yôsuke selber das Tätowiergerät in die Hand nehmen und einem Kunden die Umrißlinien stechen durfte. Sein Meister hatte eben auf Mechanik, also Tätowierpistolen, die er übrigens aus Deutschland importierte, umgestellt. Deshalb erlernte Horitsune II das Handwerk per Maschine. Andere japanische Tätowierer inken bis heute teilweise, manchmal ausschließlich per Hand. Über seine Lehrzeit befragt, wird der sonst leutselige und gesprächige Horitsune II so einsilbig wie bei der Arbeit. Bei der spricht er so gut wie nie.

     "Es war hart. Das konventionelle Meister-Schüler-Verhältnis hat seine Vorteile. Man lernt menschlich sehr viel. Es ist eine Art Charakterbildung. Disziplin, Geduld, Fleiß, Ehrfurcht vor dem Handwerk und vieles mehr macht man sich quasi im Vorbeigehen zu Eigen. Aber es gibt dabei viel zu viel Geheimniskrämerei und unnötige Sklaverei. Ich bin kein kompletter Gegner dieses Systems, aber persönlich halte ich mich nicht an die Tradition. Ich teile mein Wissen bereitwillig mit jenen, die es erwerben wollen. Junge Kratzer kommen zu mir, um sich stechen zu lassen und tätowieren zu lernen. Manche unter ihnen waren in den USA oder haben sich in Japan Kenntnisse der Tätowierung westlicher Art angeeignet. Wenn sie von mir was lernen wollen, erteile ich jedwede Instruktion. Vorausgesetzt der Kandidat entspricht charakterlich und erscheint mir der Sache würdig. Aber meinen Meisternamen werde ich nicht vererben. Ich bin ja aus diesem System ausgestiegen. Jeder soll sich seinen eigenen Namen zulegen und zusehen, sich einen echten Namen im Sinne einer Reputation als Künstler zu machen. Mehrere junge Leute sind in meine Schule gegangen ohne den ganzen Krimskrams der ewigen Warterei und Anwartschaft und des Faktotum-Daseins. Sie sind heute selbständig und machen vornehmlich kleinflächige Arbeiten für eine junge Klientel. So genannte one-point-Tattoos, die jüngst in Japan in Mode gekommen sind. Nicht zuletzt aufgrund des Tattoo-Booms in Europa und Amerika." 

     Gegenwärtig kann der Anfang fünzigjährige Horitsune II auf bald dreißig Jahre Hautstichgewerbe zurückblicken. "Es gibt wohl nur wenige, die so viele Häute mit Farbe gegerbt haben wie ich", meint er zurückblickend. Begonnen hat er recht bescheiden. Nachdem er seinen Künstlernamen erhalten und somit lizensiert in die Freiberuflichkeit entlassen worden war, begab er sich auf Kundenfang. Er verschickte Fotos seiner Arbeiten an Yakuza-Büros oder ging mit seinen Alben persönlich bei Yakuza-Paten vorsprechen, um an Arbeit zu kommen. Des öfteren erhielt er das Angebot, als Gangmitglied Aufnahme finden zu können, um praktisch als "Haus-Tätowierer" bei gesichertem Lebensunterhalt werken zu können. Er hat dies mehrfach abgelehnt. "Mich hat immer nur der künstlerische Aspekt des Hautstichs interessiert. Der zweifelhafte Glamour der Unterwelt hat mich nie angezogen, auch wenn nach meinem Debut als Tätowierer jahrelang bis zu neunzig Prozent meiner Kundschaft aus einschlägigen Kreisen kam. Aber ich sah mich stets als Hautbildner, nicht als Ganoven."

     Horitsune II ließ sich einen Werbegag einfallen, der jedem sprichwörtlich geschäftstüchtigen Kaufmann aus Osaka Ehre gemacht hätte. Er bemalte (diesmal wirklich nur mit Farbe) seinen etwa siebenjährigen Sohn kunstvollst am ganzen Körper, gab ihm einen Lampion in die Hand, auf dem sein Künstlername stand und lichtete ihn ab. Dieses Foto seines lendenbetuchten Kindes mit der beeindruckenden "Ganzkörpertätowierung" schickte er dann an Yakuza-Banden. Dort, so erzählt er, hätten dann die hartgesottenen Banditen eifrig diskutiert, ob sie selber Mannes genug seien, sich eine ähnliche Hautzeichnung stechen zu lassen, wenn schon ein kleiner Knabe derart prunkvoll dekoriert sei. Diese Aktion hatte Horitsune's Ruf in der Gangsterszene endgültig etabliert. Klienten kamen zunehmend per Mundpropaganda und zeitweise hielt er mit drei, vier Kunden am Tag stundenlange Stechséancen ab.

     Heutzutage bearbeitet er normalerweise nur einen Hautpatienten pro Tag. Auch hat sich das Profil seiner Kundschaft geändert. Nur noch etwa die Hälfte rekrutiert sich aus Yakuza-Kreisen, die andere Hälfte besteht aus Leuten in bürgerlichen Berufen wie Taxifahrern, Feuerwehrleuten, Köchen, Bauarbeitern, aber auch biederen Firmenangestellten. Das hat übrigens Tradition: es waren nie ausschließlich Yakuza, die sich hautbemalen ließen, wie es ein in Japan verbreitetes Stereotyp will. Jüngst wird Tätowiertsein sogar gesellschaftsfähig, jedenfalls in gewissen Kreisen akzeptiert. Rock- und Popmusiker stellen ihre Tattoos öffentlich auf Werbeplakaten oder in Fernsehsendungen zur Schau - vor wenigen Jahren noch undenkbar. Unter jungen Leuten scheinen die Vorurteile gegen das Tätowiertsein zu verschwinden. Studenten (allerdings nicht die der Elite-Universitäten), am Rande des Arbeitsmarktes als Gelegentheitsjobber Driftende, Aktionssportler wie Skate- oder Snowboarder oder Surf-Afficionados, Untergrundmusiker und andere ihre Hobbies und ihre Freizeit einer reglementierten und regulären Firmenarbeit Vorziehende lassen sich vermehrt und ungeniert hautpunzieren.

     Als jüngsten Trend stellt Horitsune fest, dass zunehemend junge Kunden, die sich ein kleines Motiv stechen hatten lassen, zu ihm kommen, um dieses in eine großflächige japanische Arbeit integrieren zu lassen. Ihr Stecher konnte zwar Einzelmotive, oft "westlicher Art", inken, beherrschte hingegen die Tätowierung japanischen Stils nicht. So wird also Horitsune aufgesucht. Von ihm wird dann z.B. ein Totenköpfchen auf dem Oberarm in eine flächendeckende Hautdekoration vom Handgelenk bis über Schulter und Brust eingearbeitet. Er kommentiert dies so: "Diese jungen Leute lassen sich ein Modetattoo machen, das ihnen dann aber die Augen für die Tätowierkunst als solche öffnet. Da kommen sie drauf, dass es eine japanische Tradition gibt und wollen dann was 'Authentisches'. Dass man nach dem ersten bescheidenen Bildchen mehr und mehr Farbe auf der Haut bekennen will, konnte ich übrigens über die Jahre unzählige Male beobachten."   

     Über seine Kunden kann Horitsune allerlei Anekdoten und Schnurren erzählen. Über das Yakuza-Söhnchen zum Beispiel, das zwar nicht in die Fußstapfen seines Vaters treten, aber partout eine dieser tollen bunten Bodysuits haben wollte. Nach langen Deliberationen mit Horitsune, an denen der ganze Clan teilnahm, wurde für ein Motiv entschieden. Fortan wurde der junge Kandidat wöchentlich mit einer luxuriösen Limousine zu Horitsune's Studio kutschiert, um sich bearbeiten zu lassen. Aber nach wenigen Sitzungen häuften sich die Ausfälle. "Ständig hatte er andere Ausreden, um sich der peinvollen Prozedur zu entziehen. Die ganze Familie mußte ihm gut zureden, das angefangene Hautbild zur Gänze ausgestalten zu lassen, alles andere sei eine Schande und lebenslange Schmach. Er war schrecklich wehleidig. Bei jedem anderen Hyperempfindlichen hätte ich gesagt: 'Geh' woanders hin oder laß es bleiben'. Aber sein Vater war ein renommierter Boß und ich konnte sein Früchtchen nicht einfach wegschicken. Er hat mich bestens dafür entschädigt und mit Geschenken überhäuft. Meist mit Naturalien oder teuren Spirituosen. Einmal hat er beiläufig gefragt, ob wir was brauchen könnten. Meine Frau betreibt ja ein Lokal und hatte gerade keine Eier. Kaum war das Wort gefallen, kann man sagen, kam ein derart riesiges Paket mit Landeiern ins Haus, dass wir sie trotz Gastbetrieb nicht verbraten konnten. Wir haben die Eier verschenkt. Damals hat die ganze Nachbarschaft von meiner Mimose profitiert!"

     Dass die Akzeptanz von Hautaccessoires in der japanischen Mainstream-Gesellschaft immer noch gering ist, illustriert die Gechichte eines Kunden, der Angestellter in einem angesehenen Handelshaus war. Bei der üblichen firmeninternen Gesundheitsuntersuchung kam heraus, daß er ein Hautbild trug. Er wurde prompt gefeuert. Auch der bislang betagteste Kunde Horitsune's hat seinen lange gehegten Tätowierwunsch wegen gesellschaftlichen Bedenken lange hintangehalten. Er unterzog sich dann doch einer zwei Jahre dauernden Körperdekorationsprozedur. Genau zu seinem 60. Geburtstag und Pensionsantritt war dann das Meisterwerk vollendet. Unter anderem ziert ihn ein großer Phönix, Symbol der Unsterblichkeit. Aufgrund seiner Position als leitender Firmenangestellter, habe er sich die Tätowierung in jüngeren Jahren schlechthin nicht "leisten" können.

     Auch Frauen kommen immer wieder in Horitsune's Studio. Da war etwa die hübsche, junge Frau, die sich den ganzen Rücken mit einer Kannon verzieren ließ. Die Kannon ist ein Bodhisattva des Mahâyâna-Buddhismus. Ursprünglich als Avoliketeshvara in männlicher Form verehrt, wechselte er/sie auf der langen Reise von Indien nach China und Japan das Geschlecht und wird nun als Spenderin von Barmherzigkeit und Mitleid verehrt. Sie ist ein beliebtes Motiv. Auch Horitsune's Frau trägt als eines seiner Frühwerke eine Kannon an einem Wasserfall auf ihrem Rücken. Oben erwähnte Frau war die Partnerin eines Gangsters, der eine lange Haftstrafe abzusitzen hatte. Um ihm augenscheinlich und wahrhaft körperlich ihre Treue zu beweisen, ließ sie sich nun das gleiche Bild stechen, das ihr Mann auf der hinteren Seite seines Rumpfes trug. Der konnte bei ihren regelmäßigen Gefängnisbesuchen den Fortschritt des Kunstwerkes verfolgen. Als es fertig gestellt war, rief er aus: "Ihre Kannon ist ja schöner als die meine!"

     Frauen kämen oft mit einer klaren Motivation und hohen Schmerztoleranz zu ihm, weiß Horitsune. Er hatte eine Kundin, die extra aus Kyûshû angereist kam, um sich innerhalb von vier Tagen und Nächten den gesamten Rücken an einem Stück tätowieren zu lassen. Sie erzählte, daß ihr Mann vor kurzem gestorben sei. Vor seinem Ableben hatte er über heftige Rückenschmerzen geklagt. Sie wollte ihm nun mit ihrer freiwilligen Tortur quasi nachträglich die Pein erleichtern. Das wird natürlich nur verständlich auf der Folie einer Jenseits- und Ahnenvorstellung, die von einer "mystisch-spiritistischen" Verbindung zwischen Diesseits und Transzendenz ausgeht.

     Einen echten Bodysuit vermachte Horitsune einer Frau in den Mittzwanzigern. Heute werden ja auch in Japan so genannte Ganzkörpertattoos meist nur noch über den Rücken bis zu den Oberschenkeln, die Schultern und vorne offen über die oberen Brusthälften und Oberarme geinkt. Besagte Lady ließ sich hingegen vom Hals bis zu den Hand- und Fußgelenken de facto zur Gänze "zumachen". Sie hatte jahrelang für diese Arbeit gespart. Das kann ja etliche Millionen Yen kosten. Schon als Kind habe sie sich intensiv eine Ganzkörperverkleidung gewünscht. Dazu muß erwähnt werden, daß ihre beiden Elternteile tätowiert sind. Sie hatte längere Recherchen angestrengt und sich dann für Horitsune entschieden. Der steckte sein ganzes Können in diese Arbeit. Sie kam zwei bis drei Mal die Woche für eine Stechsitzung. Eine ungewöhnliche Frequenz. In nur neun Monaten war das Hautkleid vollendet. "Ein absoluter Rekord", so Horitsune begeistert, "vielleicht ist es meine letzte Arbeit dieser Art. Sie war eine ideale Kundin. Auch bei den empfindlichsten Stellen wie z.B. an der Kniekehle oder im Steißbeinbereich hat sie mit keiner Wimper gezuckt. Normalerweise versucht sich der Körper unbewußt dem Schmerz zu entziehen. Aber sie hat sich nicht vom Fleck gerührt. Und dazu noch diese schöne Haut, ein Stechvergnügen war das!" Die Frau arbeitet als Jazz-Vokalistin und muss jahraus, jahrein langärmelige Kleidung und Hosen oder lange Röcke tragen. "Zumindestens, wenn ich auf die Straße gehe", sagt sie", "aber ich habe kein Problem damit, wenn die Leute meine Tätowierung sehen. Das Problem ist in ihrem Kopf, nicht auf meiner Haut!"

     Horitsune ist im Prinzip für alle Kundenwünsche zu haben. Aber er hegt eine ausgeprägte Tätowierer-Ethik. Wer noch eine farblich unversehrte Haut hat, kann damit rechnen, sich mehreren Konsultationen unterziehen zu müssen. Das Tattoo-Motiv wird ausgiebig besprochen, nicht selten läßt Horitsune seine Kunden ihre Vorstellungen selbst skizzieren. Auch bezüglich der Stechmotivation wird der Klient eingehend befragt. Horitsune ist sich der Lebenslänglichkeit des einmal in die Tat umgesetzten Wunsches bewußt. Erst wenn er den Eindruck hat, daß der zu Behandelnde wirklich weiß, was er will, macht er sich ans Werk.

     Nein sagt er zu Genitalienschmuck (unter Yakuza beliebt). "Da halte ich dem Typ das Werkzeug hin und sage: 'Bitte, Selbstbedienung'". Auch daimon, das sind die Embleme oder Symbole von Yakuza-Banden sticht er nicht. "Zu oft verlassen die Leute das Gewerbe oder wechseln ihre Gang, dann muß ich das vertuschen oder umarbeiten. Das ist ähnlich wie mit dem Namenszug von Geliebten. Sachen, bei denen Reue vorprogrammiert ist, mache ich nicht." Mit seiner Standesehre konfligiert auch das kosmetische Tätowieren. Die Verstärkung von Augenbrauen etwa oder Lidschatten. "Dafür gibt es Spezialisten, ich bin ja kein Schönheitschirurg - oder doch, aber in einem anderen Sinne, ich bin Hautbildner, nicht Kosmetiker!"

     Vor ein paar Jahren hat sich Horitsune ein Haus auf der Insel seiner Herkunft, Kyûshû, gekauft. Dorthin zieht er sich mehrmals im Jahr für einige Wochen bis Monate zurück. Es beherbergt ein Atelier, in dem er sich dem Malen und Skulpturieren widmen kann. Seit geraumer Zeit malt Horitsune in traditionellem Stil buddhistische Altarbilder. "Das hat mir den Blick für die religiöse Dimension und Symbolik vieler meiner Hautbilder geöffnet", kommentiert er sein Hobby, "und meine Tattoos haben an Präzision, Ausdruckskraft und im Falle religios inspirierter Motive an Korrektheit, d.h. an Übereinstimmung mit tradierten Darstellungsformen gewonnen." Mittlerweilen versucht sich Horitsune auch im Bearbeiten von Holz und Stein. Er schnitzt Kannon-Figuren von beeindruckender Filigranität. In Zukunft möchte sich Horitsune vermehrt diesen gestalterischen Künsten widmen und sich vom Bearbeiten von Häuten zurückziehen. Keineswegs abwegig, geradezu ein Schließen des Kreises: biographisch, da er sich damit seinen ursprünglichen Ambitionen wieder annähert. Und historisch, da vor der Professionalisierung des Tätowiergewerbes im 19. Jahrhundert Holzschnittkünstler und Druckstockschnitzer als Nebenerwerb auch Hautstiche gemacht hatten. Von dorther stammt auch die neutralste und unter Szenevertrauten am häufigsten verwendete japanische Bezeichnung für Tätowierung: horimono, was sich vom Verb: horu = "schnitzen, einschneiden, gravieren" herleitet. Es findet sich ja häufig in den Künstlernamen japanischer Tätowierer: das tsune in Horitsune bedeutet "unentwegt, fortwährend", also ist Horitsune der, "der (für) immer schnitzt". Ein Name, dem er somit in aller Bedeutungsvielschichtigkeit und in verschiedenen Kunstformen und mit unterschiedlichen künstlerischen Medien jede Ehre macht.

    

 

 

 

Erschienen in:

Tätowiermagazin Extra 2: Japan, Mai 2000, 6-12