"Art can never exist
without Naked Beauty displayed." William Blake Wolfgang Herbert @@@@@@@@@@@@@@@@@ Nackte und
bunte Haut. @@@@@@@@@@@@@ Tatauierungen als
Ver-Kleidungen 1. Introitus @@@@ Tätowieren ist
in. Oder vielleicht muss in Bälde gesagt werden: war in. Das mittels
spitzer Instrumente bleibende Einbringen von Farbpigmenten unter die Haut (=
Tätowieren) ist durchaus Moden unterworfen. Die 90er Jahre brachten einen
veritablen Tattoo-Boom aus den USA und Europa nach Japan, der dort sichtbare
Spuren auf den Häuten Jugendlicher hinterließ. Das kann im Kontext
eines "neuen" Körperkultes[1] gesehen werden, der
auch im Piercing von Kopf bis Genitalien seinen Ausdruck fand oder im Branding, dem Einsengen von
Narben. Diese können auch durch Scarring regelrecht in die
Körperoberfläche eingraviert werden - übrigens eine archaische
Methode des Körperschmuckes, die von etlichen afrikanischen
Stammeskulturen dem auf dunkler Haut weniger sichtbaren Tätowieren
vorgezogen worden war. Auch Implanting gehört zu diesen
körpermanipulierenden Techniken mit Dekorationsabsicht: das Einführen
von Metall unter die Epidermis zur Schaffung von Mustern und ganzen
Schriftzügen. Diese körpermodifizierenden Techniken laufen auch unter
dem Titel "Body-Art". @@@@ Der Tätowiertrend ist
somit nur Teil einer umfassenden Instrumentalisierung des Körpers und der
Reklamation der Rechte auf das eigene Erscheinungsbild, die Sloterdijk als
"Design-Individualismus" bezeichnet hat (Sloterdijk 1999:12). Auch
wird vermutet, dass (in Japan) ein Wandel in der Einstellung zum Körper
diesen zu einer kontrollierbaren Kommodität umzufunktionieren trachte
(Getreuer-Kargl 2000:33), von "Somatisierung der Emotionen" und der
Formung von Subjektivitäten via Körper geht die Rede (Clammer
2000:213f.). Die Großinterpretationen muss ich den maîtres de
pensée der Kulturkritik überlassen. Ich beschränke mich hier auf das
Feld der Hautdekoration per Nadelstich, die jüngst im Sog obig
angedeuteter Tendenzen oder als eines derer Verstärkungselemente rasant an
Popularität gewonnen hat. 2. Souvenirs auf der Haut: Südseefahrer und Japanreisende @@@@ Die genaue Bedeutung und
Etymologie der Vokabel "Tätowieren" ist nicht einspruchsfrei
geklärt. Fest steht, dass das Wort in Europa erstmals durch James Cook
1774 in der Form "tattaw"vorgestellt worden war. Es soll in Tahiti "Wunden
schlagen" bedeuten oder onomatopoetisch auf das Geräusch beim
Einbosseln der Farbe unter die Haut anspielen (Friederich 1993: 14f.)[2]. Schon 1691 wurde von
Drapier der erste hautverzierte Südseeinsulaner nach Europa gebracht. Ihm
folgten zahlreiche Eingeborene bis 1775 von Fourneaux, dem Kapitän eines
Schiffes, das mit Cook's Expedition die Welt umsegelt hatte, Omai, einen
ganzkörperpunktierten Prinzen aus der Südsee mitgebracht hatte.
Dieser wurde zum exemplarischen edlen Wilden stilisiert, an Höfen und in
höheren Gesellschaften zur Schau gestellt, womit er einige
Berühmtheit erlangte. Im Umfeld der Französischen Revolution soll es
dann zu einem starken Anstieg der Tätowierungen gekommen sein (Oettermann
1994:45f.) Im 19. Jahrhundert wurden ganzkörpertätowierte Männer
und Frauen zu beliebten Jahrmarktattraktionen. Unter ihnen waren in der Fremde
Gestrandete, Beachcombers, Hochstapler oder Fakire, die mit den
abenteurlichsten Geschichten aufwarteten und für Kurzweil unter den
Schaulustigen der Jahrmarktbacchanalien sorgten. Um die Jahrhundertwende und
bis in die 20er Jahre des 20. Jahrhunderts wurde die Tätowierpraxis als
"epidemische Manie" beschrieben und mehrfach auf diese als
Modeerscheinung in Deutschland hingewiesen (vgl. Friederich 1993:20f.). @@@@ Es waren nicht nur mobile
Berufsgruppen wie Seefahrer, Kaufleute oder Soldaten oder Angehörige
zwielichtiger Milieus, die sich hautverzieren ließen. Auch unter dem Adel
war es durchaus en vogue, sich ein Hautbild machen zu lassen. Einige
Hochwohlgeborene kamen auf ihren Reisen bis nach Japan, wo in Yokohama in zwei
lizensierten Tätowieretablissements quasi für den Export Häute
von Ausländern gestochen werden durften. Berühmt wurde der Meister
Horichô, zu dessen Kunden der spätere englische König George V.
gehörte, welcher ihn 1881 als junger Seeoffizier aufgesucht hatte. Auch
die Königin Olga von Griechenland und als Zarewitsch der spätere
Nikolaus II. von Rußland sowie die Herzoge von York und Edinburgh
ließen sich von Horichô ein kleines Hautbild machen. Diplomaten und
Damen der Gesellschaft sollen in Japan ebenfalls zur Kundschaft der
Tätowierer gezählt haben (Martischnig 1987:27f.). Horichô's Ruf
gelangte bis nach London, wo sich der Tätowierer Donald McSutherland
(+1926) von seinen Arbeiten stark inspirieren ließ. Er soll es denn auch
in der Kunst der Abschattierung, einer japanischen Spezialität, zu
großer Kunstfertigkeit gebracht haben - ein frühes Beispiel
westöstlicher Wechselwirkungen im Bereich der Hautbildnerei. @@@@ Tätowieren war hingegen
zu dieser Zeit - ein halbes Jahrhundert nach einer beispiellosen Hautdekormode
- in Japan längst (seit 1872) offiziell verboten. Dieses Verbot stellte
sich als paradox und kontraindikativ heraus. Es ist ein kurioses Ergebnis einer
mißverständlichen Aneignung des fremden Blickes. 1854 wurde Japan
nach einer mehr als zweihundert Jahre langen Phase der Selbstisolation
"geöffnet". 1868 wird das Schogunat gestürzt und eine
konstitutionelle Monarchie errichtet. Das Inselland stürzt sich eilends
und überhastet in Industrialisierung und militärische
Aufrüstung, mit dem Wunsch mit den westlichen Mächten gleichzuziehen
und diese zu überholen. Um die nötige Anerkennung zu erheischen,
wurden allerlei westliche Gepflogenheiten (Kleidung, Essen, Tanzveranstaltungen
etc.) ausprobiert und zur Schau getragen. Unter keinen Umständen sollte
der Eindruck entstehen, dass rückständige, barbarische (= aus dem
westlichen, geborgten Blickwinkel) Sitten in Japan herrschten. So wurde das
Tätowieren untersagt, aber auch z.B. die Präsentation von
mächtigen Holz- oder Steinphalli als Kultobjekte in Schreinen. Das gemischte
Baden von Männern und Frauen wurde gleichermaßen verboten wie
öffentliches Urinieren (letzteres bis heute fröhlich praktiziert -
von Männern - bezeugt, wie sehr Gesetze veritabel in den Wind geschrieben
sein können). @@@@ Beim Tattoo-Verbot gab es
diesmal sogar Razzien und Geld- und Haftstrafen. Dabei wurden auch viele
Tätowiervorlagen zerstört, was seinerseits als barbarisch gelten darf
(auch solche von Kuniyoshi oder Toyokuni, Rödel 1999:59). Der berühmte
Tattookünstler Horiuno wurde im Alter von 82 Jahren (!) verhaftet, sein
Werkzeug und seine shita'e (Paus-Skizzen) wurden konfisziert. Er mußte eine
Geldbuße zahlen und vier Tage Arrest absitzen (Tamabayashi 1956:247).
Dennoch war das Interdikt nicht nur wirkungslos, sondern in seiner Intention
und Stoßrichtung völlig daneben gegangen. @@@@ Die nach Japan kommenden und
gekommenen Ausländer waren von den Hautzeichnungen nämlich
hingerissen und begeistert. Sie wurden deshalb in eigens für sie
geduldeten Tattoo-Studios bedient. Diese Faszination mag auch mit der
Entdeckung Japans in der Kunst um die Jahrhundertwende zusammenhängen
(für die bildende z.B. Delank 1996, die literarische Erschließung
beschreibt Schuster 1977:9-55). Im Japonismus wird ein völlig neuer Blick
eingeübt, man läßt sich von den neuen Sehmöglichkeiten
erschüttern. Für den Jugendstil werden Motive aus der Fauna, die
kühne Linienführung mit an- und abschwellendem Duktus oder
Wellenmotive vorbildhaft. Eine andere Räumlichkeit, eine Neubestimmung des
Verhältnisses von Bildfläche und Darstellung oder
Randüberschneidungen prägen die innovativ werdenden
Ausdrucksmöglichkeiten - und sind im übrigen im Holz- wie im
Hautschnitt zu finden. Der Holzschnitt war ein kommerzielles Produkt, deshalb
erstaunlich uniform in Thema und Stil (Brandt 1984:784). Aber deswegen in Japan
auch künstlerisch nicht sonderlich hoch eingeschätzt. Auch hier hat
erst der "westliche" Blick und eine Rückbesinnung auf eigene
Traditionen eine Neubewertung eingeleitet.@
@@@@ Das künstlerische
Hautstechen wurde erst nach dem Zweiten Weltkrieg 1948 im Zuge der Aufhebung
alter repressiver Gesetze wieder legalisiert. In den 50er Jahren begannen dann
die ersten japanischen Tätowiermeister elektrische Tätowierpistolen
zu verwenden und neue Tattoo-Farben aus den USA und Europa einzuführen.
Umgekehrt wurde die japanische Tätowierung über Tattoo-Conventions,
großer Versammlungen und Showveranstaltungen von Tattoo-Fans, sowie durch
Bildbände und Magazine international bekannt. Die Kunst der japanischen
Tätowierung wurde bald nachgeahmt und als Inspiriationsquelle willkommen
geheißen. Der Einfluß der japanischen Tätowierung auf die
"westliche" bei Motiven und in der Bildgestaltung - aber auch bei der
Kolorierung - "kann ... gar nicht hoch genug eingeschätzt
werden." (Rödel 1999:65). Bis dahin war es aber ein langer Weg, den
wir nun von seinen Anfängen her kurz überfliegen wollen. 3. Historische Schlaglichter 3.1. Tätowierung und Verbrechen @ @@@@ Die ältesten
schriftlichen japanischen Quellen, die die Tätowierung erwähnen, sind
die semi-mythologischen "Aufzeichnungen alter Begebenheiten" (Kojiki
aus dem Jahre 712) und die "Japanischen Annalen" (Nihon Shoki, 720).
Dort wird das Anbringen von Hautmalen zur Bestrafung beschrieben, ein Brauch,
der aus China übernommen worden sein dürfte, obgleich er dort zu
jener Zeit schon obsolet war (vgl. Gulik 1982:8ff.). Während umgreifender
Reformen Mitte des 7. Jahrhunderts in der Taika-Ära abgeschafft, wurde die
Straftätowierung im Jôei-Kodex (1232), dem schriftlichen Destillat
des geltenden Feudalrechts, wieder angeführt und ab 1670 als Strafe erneut
institutionalisiert, allerdings 200 Jahre später wieder rechtlich
beseitigt (Gulik 1982:13). Die Muster dieser punitiven Hautzeichnung waren
regional sehr verschieden, Streifen am Oberarm häufig, aber selbst
Tuschzeichnungen im Gesicht (sogenannte keimen) üblich (vgl. Abb. in
Tamabayashi 1956: 96 u. 97). Diese Straftätowierung hatte allerdings eine
verheerende Wirkung auf das Image von Hautverzierung. Ihr ist die vorschnelle
sowohl (sozial)geschichtlich wie gegenwärtig falsche Gleichung
Tätowierter = Krimineller zu ver(un)danken. @@@@ Einen analogen
Kriminal-Diskurs gab es interessanterweise auch mit dem Modeaufkommen der
Tatauierung in Europa. Repräsentativ dafür und trotz horrender
theoretischer Mängel breitenwirksam war die Schrift "L'Uomo
delinquente" (1876) von Lombroso, in dem Tätowiert-Sein geradezu als
Merkmal des Verbrechers zu gelten hatte und als "atavistisch" und
obszön und degeneriert etikettiert wurde. Übrigens hat sich auch
Adolf Loos in seinem horror ornamenti vehement gegen Hautverzierungen
ausgesprochen. Zur unverhältnismäßig schrillen Reaktion auf
Tattoos und zu deren Kriminalisierung meint Oettermann: "Man kann
die europäische Tätowierung seit Cook deuten als (historisch wie
individuell) letzten, verzweifelten - und zu spät gekommenen - Versuch des
zur identitätszerstörenden Monotonie der Fabrikarbeit verdammten
Individuums, die eigene Haut zu retten, bevor man sie ihm über die Ohren
zog. Der Sprache nicht mächtig, um sich selbst zu artikulieren,
reklamierten die Tätowierten mit ihren bunten Bildern aus der Südsee
auf der Haut immer wieder das Leben, das sie verloren hatten, oder das sie sich
erträumten - das (irdische) Paradies, das ihnen verheißen war. Der
Diskurs der Mächtigen dagegen versuchte so lautstark als möglich
diesen Protest der Tätowierung zu diffamieren und die Träger dieser
Proteste über die Grenze ins Kriminelle abzuschieben, wo sie, so
stigmatisiert, 'klassifizierbar', zumindest aber als die "Anderen"
erkennbar waren und notfalls auch von den Ordnungsbehörden
unschädlich gemacht werden konnten." (Oettermann 1994:72 u. 73). 3.2. "Stammestätowierung" @@@@ Hier möchte ich unseren
Blick noch einmal weit historisch nach hinten richten, um uns eine andere, ja
geradezu Gegen-Perspektive zu eröffnen. Keramikfiguren aus der mittleren
Jômon-Zeit (ca. 3500 bis 2400 v. Chr.) weisen ornamentale Muster auf, die
vermutlich Tätowierungen darstellen. Ein chinesisches Geschichtswerk (Wei
chih, Ende 3. Jahrhundert n. Chr.) berichtet über das Volk der wa = Japaner, dass deren
Männer alle im Gesicht und auf dem Körper tätowiert seien. Dabei
handelte es sich um ornamentale, apotropäisch intendierte Hautzeichnungen,
die vermutlich auch Signum des sozialen Status waren (vgl. Rödel 1999:9 u.
11). Was hier angesprochen wird, kennen wir von polynesischen Völkern und
den Maoris aus Neuseeland: Tätowiert sind (eigentlich: waren) dort alle,
d.h. es gehört zur Normalität, ist verbindlich und Ausweis der
gesellschaftlichen Stellung. In diesem Kontext ist somit der
Nicht-Tätowierte der Abnormale, mit einem Mangel Behaftete und potentiell
sozial Ausgegrenzte! Kunstvoll tätowierte Maori-Köpfe waren im 19.
Jahrhundert übrigens beliebte Reisetrophäen (Oettermann 1994:57) -
makabres und beklagenswertes Detail aus der Kolonialgeschichte. @@@@ Die Tätowierung als
"Normalphänomen" unter Leuten an der spät und brutal
assimilierten Peripherie des heutigen Japan war schon seit altersher bekannt
und ist Fokus eines erneuten ethnologischen Interesses, wie eine Sammlung
historischer Texte zur Hautpunzierung zeigt (Koishikawa 1997)[3]. Hierin finden sich
mehrere (illustrierte) Beiträge zu den Handtätowierungen der Frauen
auf den Ryûkyû- und Ôshima-Inseln ganz im Süden Japans
und die Gesichts- und Handtätowierungen der Utari- (=Ainu) Frauen im hohen
Norden Japans. Letzteren widmet van Gulik ein ganzes Kapitel (Gulik
1982:181-245, siehe auch: Giese 2000). Die historisch als ezo oder emishi benannten
"Ureinwohner" Japans, die immer mehr nach Norden getrieben und
schließlich (weitgehend) zwangsassimiliert wurden, werden schon im
Nihonshoki aus dem 8. Jahrhundert n.Chr. als Leute "heftigen
Temperaments" erwähnt, bei denen der Brauch des Tätowierens von
Mann und Frau gepflegt werde. Dokumentarisch verbürgt sind aus
jüngerer Zeit hingegen nur Hautverzierungen von Frauen (vgl. Rödel
1999:14). Die Handtuschzeichnungen der weiblichen Bevölkerung der Ryûkyû-Inseln
dürften motivisch aus der Südsee oder Taiwan stammen, jedenfalls sind
sie dort zu findenden Hautdekorationen ausgesprochen ähnlich (Tamabayashi
1956:304). Der Hautschmuck an den geographischen Enden Japans ist heute nahezu
verschwunden und wurde von der Hauptinselpopulation ohnedies eher und seit
jeher als Unsitte betrachtet. Unter dieser gab es allerdings vor der Entfaltung
der Ganzkörpertätowierung Anfang des 19. Jahrhunderts verschiedene
andere Sitten des Hautdekors: 3.3. Vorboten und Vorläufer der körperdeckenden Kunsttätowierung @@@@ Zu unterscheiden wären
hier neben der Straftätowierung: Schwurtätowierungen (kishôbori), eingestochene
Liebesmale (irebokuro) und die Geckentätowierung (datebori). Aus dem Mittelalter
gibt es nur ganz spärliche Berichte über Hautzeichnungen - das gilt
im übrigen für Europa wie für Japan gleichermaßen. In
Europa waren es Kreuzfahrer, die sich mit relgiösen Motiven verzieren ließen
(vgl. Oettermann 1994:15f.), aus Japan sind aus der Kamakura-Zeit (1185-1333)
Fälle bekannt von Priestern, die sich buddhistische Erlösergestalten,
Bodhisattwas, oder zu deren Anrufung Mantra-ähnliche Schriftzüge auf
Schultern oder den Rücken tätowieren ließen. Dies hat aber
keine weiteren Kreise gezogen (Rödel 1999:18). @@@@ In der Edo- oder Tokugawa-Zeit
(1603-1868) tauchen vermehrt Belege über Hautverzierungen auf und diese
wurden in gewissen Zirkeln zu einer regelrechten Mode. Diese Periode ist durch
eine Zeit inneren Friedens (abgesehen von regelmässigen Bauernaufständen)
und einer klar gegliederten ständischen Feudalordnung gekennzeichnet. In
den großen Städten entwickelte sich eine reiche von Bürgern
getragene Kultur. Theater und Literatur kamen zur Hochblüte. Sie trugen
zur Bekanntheit des Phänomens Tätowierung nicht wenig bei, da in
beiden Genres immer wieder darauf angespielt wurde. Ein künstliches
Hautmal war kaum Stigma (außer im Falle einer Strafzeichnung), sondern
weit verbreitet. @@@@ Schwurtätowierungen sind
seit Anfang des 17. Jahrhunderts bezeugt und werden in religiöse und
erotische geschieden. Zu ersteren gehören z.B. Widmungen des eigenen
Lebens an eine bestimmte Gottheit oder die um die Gnade des Buddha
Amithâba flehende Formel namu amida butsu, die mit Tusche eingestochen
werden (Gulik 1982:28). Bei den erotischen Tattoos gibt es wiederum zwei
Formen: unter Liebespaaren wurde der Name der/s Geliebten in den Unterarm
eingraviert und mit dem kunstvoll prolongierten Schriftzeichen für Leben,
das dieser/m hingegeben wird, abgeschlossen (Tamabayashi 1956:55; Beispiele
analoger Liebesinitialen aus Europa in Oettermann 1994:18). Die andere Form war
ein "Schönheitsflecktattoo" (irebokuro, Tamabayashi
1956:14). Dabei wurde in die Grube zwischen Daumen und Zeigefinger, genau dort
wo beim Handgeben der galanten Partner die rechte Daumenspitze zu ruhen kam,
ein künstliches Muttermal eingestochen. Dies wurde in der ersten
Hälfte des 17. Jahrhunderts in den Vergnügungsvierteln Kyoto's und
Osaka's Sitte und verbreitete sich dann in den entsprechenden Milieus von Edo,
dem heutigen Tokyo. Diese oben erwähnten Tätowierformen werden von
Tamabayashi in Abgrenzung zu den bildhaften als "allegorische"
bezeichnet. @@@@ Die - noch auf fragmentarische
Einzelbilder beschränkte - Kunsttätowierung nimmt ihren Anfang in der
"Geckentätowierung" des 18. Jahrhunderts (dazu: Rödel
1999:32ff.) - in Anspielung auf otokodate, datebori genannt. Otokodate bedeutete die
Personifizierung wahrer Männlichkeit, die sich verschiedene Subkulturen
zuschrieb, Feuerwehrleute, Straßenritter und Gangster ebenso wie junge
Rowdies (sogenannte machiyakko), die sich in einer Art Stadtbürgerwehr
kämpferisch gegen Übergriffe und zuweilen Überfälle von
(oft herrenlosen) Samurai wandten. Diese häufig in Banden
zusammengschlossenen machiyakko ließen sich einfache Bildmotive wie
Drachen, abgeschlagene Köpfe, Pflanzen oder Tiere auf Brust, Rücken
oder Arme tätowieren. Otokodate beliebten auch durch Dandytum
und exzentrische Kleidung aufzufallen und die Tätowierung dürfte als
aussdruckstarkes Signal ihrem Imponiergehabe zu Gute gekommen sein. Vermutlich
haben auch Ganoven versucht mit Bildern ihre Strafmale zu vertuschen und zu
überdecken. Die Strafzeichnungen flößten ja dem guten
Bürger Angst und Respekt ein, weshalb es Leute gab, die mit diesem Image
spielten und sich tätowieren ließen, um andere einzuschüchtern
(diese als Drohgebärde gedachten Tattoos hießen auch ikakubori, Tamabayashi 1956:
104f.). 4. Der Trendsetter: ein chinesischer Roman mit tatauierten Helden @@@@ Mitte des 18. Jahrhunderts ist
die Umbruchzeit, in der sich die Tatauierung japanischen Stils hin zur
Ganzkörperverzierung entwickelt. Van Gulik macht einen eleganten Schnitt
mit dem Jahre 1750, nach dem er sein drittes Kapitel seiner bis heute verläßlichsten
Monographie (neben Rödel 1999)[4] über die
Tätowierung in Japan beginnen läßt. Es ist denn auch mit
"The Flowering" überschrieben. Einem literarischen Ereignis wird
in den Quellen übereinstimmend eminenter Einfluß auf diese
Hautbildblüte zugeschrieben. Auslöse- oder zumindestens
Verstärkerfaktor für die Ganzkörpertattoomode war der Roman
Suikoden (dazu: Rödel 1999:34-46, Gulik 1982:44-53, Tamabayashi
1956:121-149 und Klompmakers 1998)[5]. @@@@ Dass diese in China
(Originaltitel: shui hu chuan) bis heute ausgesprochen beliebte Sammlung von
Renegaten- und Brigantengeschichten in Japan derart populär geworden ist,
verdankt sich einem, wenn man so will, "Zufall". Ogyû Sorai,
ein berühmter konfuzianischer Gelehrter, hatte Anfang des 18. Jahrhunderts
einen Gelehrtenzirkel gegründet, in dem der Suikoden als
"Übungstext" übersetzt worden war, um sich mit klassischem
Chinesisch vertraut zu machen. 1727 erschienen auf Japanisch erstmals die
ersten 10 Kapitel, weitere 10 dann 1759. Der Roman handelt von 108 Rebellen (36
Haupt- und 72 Nebenfiguren) und deren Rückzugsort Lian shan po (jap.:
Ryôsanpaku) - und ist deshalb immer wieder mit den Erzählungen
über Robin Hood verglichen worden. Schauplatz und Figuren sind historisch
nachweisbar: es handelt sich um edle Räuber und Obrigkeitsverächter
unter ihrem Anführer Sung Chiang, der im 12. Jahrhundert gelebt hatte.
Seine Heldentaten und die seiner Entourage sind zu Volkslegenden geronnen, die
1589 schließlich schriftlich kompiliert worden waren. @@@@ In Japan schlug der Suikoden
Ende des 18. Jahrhunderts wie ein Meteor in die aufnahmebereite Landschaft der
Populärliteratur ein und zog einen langen Schweif an Editionen,
Neubearbeitungen und Nachdichtungen und "heimischen", d.h. auf
japanischen Boden verlegten Versionen nach sich. Für die Rezeption
herrschten geradezu ideale Bedingungen. Es gab eine ausgeprägte Lesekultur
unter der Stadtbürgerschaft, die ja Träger und Konsument einer
verfeinerten Kultur geworden war. "Die
kulturelle Blütezeit der Bunka-Bunsei-Ära (1804-1829)[6] zeigt ihre literarischen Auswirkungen
speziell auf dem Felde der Erzählprosa, wo viele neue Genres einer
leichten, meist humorvollen und immer unterhaltsamen Erzählliteratur
entstehen, die zusammenfassend als gesaku 'zum Spaß Geschriebenes' bezeichnet wird.
... Die yomihon
('Lesebücher' genannt im Gegensatz zu den überreich illustrierten
Bildheftchen, ezôshi) mit pseudo-historischen Abenteuergeschichten großen
Maßstabs sind jedoch moralisch bzw. moralisierend ausgerichtet und wenden
sich von der Demimonde ab und heroisch-abenteurlichen Themen zu. Die Reaktion
auf die spannenden Werke des Hauptvertreters der yomihon, Takizawa Bakin (1767-1848), zeigen
deutlich die Situation der Literatur am Anfang des 19. Jh. auf: Es besteht ein
riesiges Leserpotential, dem ein großer Buchmarkt entspricht. Die Werke
der Unterhaltungsliteratur werden für den Markt 'produziert', z.T. in
langen Fortsetzungen ..., die je nach Bedarf verkürzt oder ausgedehnt
werden." (May 1984:888f.)@@ @@@@ Nachdem Tatebe Ayatari
(1718-1773), ein prominenter kibyôshi-Schreiber, also Texter für
stark bebilderte so genannte "Hefte mit gelbem Umschlag", im Jahre
1773 eine zehnbändige naturalisierte Suikoden-Version (Honchô
suikoden = "Der Suikoden unseres Landes") in Umlauf gebracht hatte,
begann oben erwähnter Takizawa Bakin 1805 mit einer neuen
Suikoden-Übersetzung. Der Suikoden kam nicht nur den ebenfalls oben
angesprochenen Marktbedingungen verlegerisch (fast beliebig fortsetz- bzw.
kürzbar) entgegen, sondern vor allem thematisch. Rebellion gegen die
Obrigkeit, Schutz und (materielle) Hilfe für die Armen, Freigeisterei und
Ausbruch aus den gesellschaftlichen Zwängen und Anforderungen waren Topoi,
die eskapistische und ersatzutopische Neigungen optimal bedienten. Wenigstens
in der Fantasie konnte Auflehnung gegen die reale, rigide und
durchreglementierte Feudalwelt geprobt und der Ruch der Freiheit gewittert
werden. Die Suikoden-Helden boten somit ein hohes Identifikationspotential. @@@@ Für die von Takizawa
Bakin in Angriff genommene Neu-Übertragung (Shinpen suikogaden = "Neue
illustrierte Ausgabe des Suikoden) wurde niemand Geringerer als der Meister
Katsushika Hokusai (1760-1849) als Illustrator engagiert. Hokusai gilt heute
als einer der berühmtesten Vertreter der ukiyo'e, der Holzschnitte
oder "Bilder der flüchtig-vergänglichen Welt". Hokusai und
Bakin überwarfen und zerstritten sich allerdings, sodass ihre
Zusammenarbeit nach dem zehnten Band beendet war. Man kann den Wert, den man
einer guten Illustration beilegte daran ermessen, dass für die Fortsetzung
ein neuer Übersetzer (Takai Ranzan), nicht Holzschneider verpflichtet
wurde. Ranzan's Übertragung erreichte nicht die Eleganz der Bakin'schen,
zudem blieb das Projekt etwa zwanzig Jahre liegen und wurde erst 1838
abgeschlossen. Von Hokusai stammen 235 Illustrationen in den ersten 60
Suikoden-Bänden, die weiteren wurden von seinen Schülern bebildert.
Wo ist nun der Nexus zur Tätowierung? @@@@ Im chinesischen Original des
Suikoden werden vier Rebellen als tätowiert geschildert. Ich gebe ihre
Namen in der japanischen Version und das Tattoomotiv in Klammern wieder: Kyûmonryû Shishin (neun Drachen) Kaoshô Rochishin (Kirschblüten) Rôrihakuchô Chôjun (florale Motive/Kiefernadeln) Rôshi Ensei (Päonien) 5. Holzschnitt und Hautschnitt: Utagawa Kuniyoshi @@@@ Die weitaus stärkste
Breitenwirkung hatte eine Bilderserie sämtlicher Suikoden-Helden (tsûzoku suikoden
gôketsu hyakuhachinin no hitori) von Utagawa Kuniyoshi
(1798-1861), die etwa 1830 fertig gestellt war. In dieser Serie sind entgegen
dem Titel 33 namentlich genannte Heroen nicht repräsentiert (Klompmakers
1998:30f.), andere dafür mehrfach, nicht zuletzt die tätowierten und
deren gibt es bei Kuniyoshi ganze zwanzig! Und während Hokusai die
Hautbilder noch vereinzelt und verstreut auf die Haut plaziert hatte, wie es
dem Text entsprach, wurden diese bei Kuniyoshi flächendeckend über
den ganzen Körper gezogen. Zudem "erfand" er für die im
Urtext nicht hautbemalten Protagonisten Motive, darunter: Donnergott, Windgott,
Tiere wie Leoparden, Löwen, neunschwänzige Katze, Affen, Schlangen,
Drachen natürlich und aus der Welt der Flora: Päonien, Ahornlaub, Weinblätter
etc. Kuniyoshi's Illustrationen wurden für den aufkommenden
Hautdekorationsboom fraglos die einflußreichsten, wenngleich neben ihm
und Hokusai noch ein gutes Dutzend anderer Holzschnittkünstler Arbeiten
zum Suikoden-Komplex in Umlauf brachten (cf. Klompmakers 1998:188-192). @@@@ Bei Kuniyoshi gibt es mehrere
bedeutsame biographische Verbindungsstellen zur Tätowierung. Zum einen war
er selbst von den Schultern über den ganzen Rücken tatauiert (das
Motiv ist nicht überliefert), was ihm den Spitznamen tekkahada ("rotglühende
Haut") eingebracht hatte (Rödel 1999:48). Kuniyoshi hat sicher
Tätowierte gesehen und deren Hautbilder inspirativ verwertet, so wie dann
seinerseits seine Holzschnitte zur Vorlage für Hautdekorationen dienten. Utagawa
Kuniyoshi war der Sohn eines Seidenmalers. Seinem Vater soll er schon im Alter
von sechs/sieben Jahren beim Entwurf von Seidenmustern geholfen haben
(Klompmakers 1998:9). Dies ist insoferne höchst interessant, da gemusterte
Textilien als Vorlagen für Tätowiermuster gedient haben. Vor allem
die ärmellosen Überwesten der Samurai und der Feuerwehrleute waren
oft reich dekoriert und mit bildhaften Darstellungen, z.B. von Drachen oder
Schutzgottheiten wie Fudô Myôô[7] verziert. Diese
wurden dann auf die Haut übertragen (Rödel 1999:49). Oder umgekehrt:
auch hier dürften sich Hautbilder und Textilstickereien und Holzschnitte
gegenseitig und mehrgleisig beeinflußt haben. Ein schönes Beispiel
hierfür ist ein Feuerwehrkittel mit dem Rückenbild eines
stockfechtenden, tätowiert dargestellten Kyûmonryû Shishin,
dessen Pose sehr an Kuniyoshi's Darstellung dieses Suikoden-Briganten erinnert
(vgl. Klompmakers 1998:46 und Sunagawa 1998:21, letzterer eindrucksvoll
illustrierter Artikel bietet zugleich eine konzise Einführung in das edozeitliche
Feuerwehrwesen). @@@@ Kuniyoshi trug auch den
Übernamen musha'e no Kuniyoshi, da er die Darstellungen von
Kriegern (= musha) als eigenes Genre in der Holzschnittkunst etablierte -
Kuniyoshi war also für die holzschnittliche Gestaltung der
Suikoden-Kämpen bestens gerüstet, wenn nicht prädestiniert. Bei
den Humandarstallungen gab es daneben u.a. die Bildnisse hübscher Frauen (bijinga) oder
Schauspielerkonterfeis (yakusha'e) - diese zwei Genres wurden aber
mit der Tempô-Reform (1842) in den Gesetzen gegen Luxus und Extravaganz
verboten (Klompmakers 1998:10 und 16). Die Suikoden-Briganten boten sich als
Ausweichsujet an. @@@@ Die genaue Wechselwirkung
zwischen Holzschnitt und Hautschnitt ist nicht decodiert, wenn sie
überhaupt noch rekonstruierbar ist. Es gibt vom ersten Aufblühen der
Tätowierung in der Bunka/Bunsei-Ära (1804-1830) sowie der
Hochblüte in der Tempô-Ära (1830-1844) leider keine
fotographischen Zeugnisse. Die existieren erst ab dem Ende des 19.
Jahrhunderts. Auf jeden Fall gibt es eine enge Verschränkung - motivisch
wie personell - zwischen ukiyo'e und Hautstich, weshalb letzterer
von Anbeginn ein hohes künstlerisches und handwerkliches Niveau hatte.
Druckstockschnitzer[8] haben im Nebenberuf
als Tätowierer gearbeitet. Farbholzschnittkünstler sollen in der
Tempô-Periode darin gewetteifert haben, die schönsten
Tätowiervorlagen zu entwerfen (Rödel 1999:48). Mit der zunehmenden
Ausbreitung der Tattoos - sowohl im Sinne einer weiteren Verbreitung unter
vielen Leuten als auch der flächenmäßigen Ausdehnung auf der
Epidermis selbst, konnten die großen und künstlerisch
anspruchsvollen Hautdekorationen nicht mehr von Laien bewerkstelligt werden. Es
kam rasch zur Professionalisierung und Herausbildung eines eigenen
Kunsthandwerkes. Deren Vertreter stammten zu erheblichem Maße aus der
Branche der Druckstockschnitzer, woher sich auch ihr Name ableitet: horimonoshi
oder horishi. Diese Ausdrücke
leiten sich vom Verb horu ab, das "schnitzen, eingravieren,
skulpturieren" bedeutet. Viele verblichene und moderne japanische
Tatowierer tragen ein "Hori" in ihrem Künstlernamen. @@@@ Auch technisch gab es wichtige
Anleihen am Holzschnitt. Der Entwurf und kühne Wurf der Umrißlinien
(suji) als erster Arbeitsschritt lehnte sich oft an den eingespielten Formen
der ukiyo'e an. Die nächste Phasen der feinen Abschattierung (bokashi) verdankt sich
eindeutig der entsprechenden Holzschnitttechnik. Es folgte dann die Kolorierung
(beta). Mitte des 19. Jahrhunderts war es durchaus noch üblich für
die drei Arbeitsgänge drei verschiedene Künstler aufzusuchen: jeweils
einen für die schönste Graphik, das beste Chiaroscuro und das
strahlendste Rot (Tamabayashi 1956:222). Zweifellos dienten und dienen
Holzschnitte als Vorlage für horimono, das sind die Tätowierungen
auf Japanisch[9]. Ich weiß vom
Tätowierkünstler Horitsune, dass er für einzelne Motive wie
Drachen oder Karpfen ganze Bildbände besitzt, in denen deren traditionelle
Darstellung sowohl in Holzschnitt wie in der Tuschemalerei (sumi'e) gesammelt ist.
Horitsune studiert diese eingehend und entwirft immer wieder auf Papier z.B.
Drachen, um deren Ausdruck und visuelle Wirkung zu verbessern. Malt er (wieder
nur als Beispiele) eine Welle oder Wolke, sind vor seinem geistigen Auge
durchaus auch Hokusai und viele andere bildende Künstler aus der japanischen
Tradition präsent. Eine Unzahl seiner später auf Häuten zu
findenden Bilder malt Horitsune bis ins letzte Detail vorerst auf Papier, nicht
zuletzt auch zur "Kundenberatung". Die Umrißlinien einer
Tätowierung skizziert er vorerst mit einer wasserlöslichen dunklen
Farbe auf Papier, das dann auf die zu präparierende Hautfläche
aufgelegt und mit einem flüssigkeitsgetränkten Pinsel bestrichen
wird. Die Linien sind dann übertragen und können gestochen werden
(beim Tätowieren heißt dieser Arbeitsgang: sujibori). @@@@ Mit der Verbreitung des in
gewissem Sinne durchaus subversiven Suikoden und Bildern seiner illustren
(tätowierten) Helden wurde der Wille wach, diese wenigstens in der
reduzierten Form eines Tattoos nachzuahmen. Damit war ja auch ein
kleinrebellischer Akt gesetzt, da die Tätowierung als demonstrative und
bildhafte Verhöhnung der Autoritäten galt. Sie wurde nämlich
mehrfach und stets erfolglos verboten, so auch im Jahre 1811, was hernach 1841
bekräftigt werden mußte. Erstere Untersagung kann als indirektes
Indiz dafür gelesen werden, wie rasant der Hautstichbrauch um sich
gegriffen hat, zweiteres als hilflose Geste angesichts einer nicht mehr
einzudämmenden Modeerscheinung und ebenso als Verweis auf die
mittlerweilen weitreichende soziale Diffusion der Hautdekoration. 6. Die Kunschaft der Tätowierer @ @@@@ Zu den Klienten der
Tätowierkünstler zählten in der späten Edo-Zeit
verschiedene Gruppen und Milieus. Da waren die professionellen
Glücksspieler (bakuto) und fahrende Händler, Schausteller und Quacksalber
(tekiya oder yashi), unter denen ein Tattoo bald de rigueur war. Beide Gruppen
bilden je eine der historischen Herkunftslinien der japanischen organisierten
Gangster (yakuza). Aber es waren nie ausschließlich Yakuza, die
sich ganzkörpertätowieren ließen, wie ein in Japan weit
verbreitetes Vorurteil will. Andere wichtige Gruppen waren die Feuerwehrleute
und (Halb-)Nacktarbeiter wie Sänftenträger und Rikschafahrer. @@@@ Die Feuerwehr bestand aus den hikeshi oder tobi[10] den eigentlichen
Bekämpfern und Lösch- und Abbrucharbeitern bei den in Edo so
häufigen Feuersbrünsten und den gaen, der Feuerwache. Von den tobi waren fast alle mit
Drachen tätowiert, einem mythologischen Tier, dem Herrschaft über das
Wasser und andere Elemente zugeschrieben wird (Gulik widmet seiner Symbolik ein
ganzes Kapitel 1982:115-178). Die tobi waren in zehn Gilden mit
insgesamt etwa 10.000 Mann organisiert und rauhe und stolze Kerle - so gut wie
alle waren hautdekoriert. Sie waren äußerst geschickt und bis heute
werden bei Feuerbrigadenparaden zu Neujahr akrobatische Shows auf Leitern
gezeigt. Auch die Stadtfeuerwache (gaen) liebte Hautdekor (Tamabayashi
1956:150). @@@@ Eine häufig wegen ihren
hübschen Hautbildern gerühmte Gruppe bildeten die kagoya. Kago heißt
"Korb" und darum handelte es sich weitgehend, wenngleich in
Übersetzungen meist von Palankin oder Sänfte die Rede ist. Dieser kago wurde als
Transportmittel für Menschen verwendet und mittels zweier Stangen von zwei
Trägern geschultert. Tsujikagoya hießen die Träger,
die auf den Straßen auf Kundschaft warteten und entsprachen einer Art
Taxigewerbe. Taxifahrer gehören übrigens bis heute zur
Standardklientel der Tätowierer. Für die edozeitlichen
Tragsesseltransporteure war die Tatauierung ein Aushängeschild, weshalb
sie selbst im Winter sehr spärlich bekleidet ihrer Arbeit nachgingen
(Tamabayashi 1956:171). Es hieß, dass sich der Kunde einen kagoya mit einem
schönen Hautbild auswählte, ganz wie heutzutage ein neues einem alten
Taxi vorgezogen würde (Iizawa Tadasu zitiert in Rödel 1999:55) @@@@ Ähnliches galt von den
Rikschafahrern, deren Hautverzierungen dem Fahrgast ja ständig vor Augen
schwebten. Die Abenteurerin Isabella Bird, die 1878 Japan bereiste, berichtet
darüber: "Diese Kurumaläufer[11] tragen kurze blaue
baumwollene Hosen ... . Der obere Teil der Kleidung flattert stets im Wind, so
daß Brust und Rücken mit den tätowierten Drachen - und
Fischfiguren sichtbar werden. Die Tätowierungen sind neuerdings verboten
worden; sie waren aber nicht bloß beliebter Schmuck, sondern auch ein
Ersatz für mangelhafte Bekleidung." (Bird 1990:55) Diese Passage ist
in zweierlei Hinsicht von Interesse: zum einen zeigt sie, daß das
(erneute) Tätowierverbot von 1872 nicht beachtet wurde, zum anderen findet
sich hier implizit die später noch ausführlich zu betrachtende These
vom Tattoo als Textiliensubstitut. @@@@ Ein anderes frühes
Zeugnis von einem Ausländer stammt von Chamberlain aus seinem erstmals
1890 erschienenen Buch Things Japanese: "Die Raufbolde der
Feudalzeit liebten Tätowierungen, augenscheinlich weil irgendeine abenteuerliche
Mord- und Totschlagszene auf ihrer Brust oder ihren Gliedern ihnen ein
schreckliches Aussehen verlieh, wenn sie aus irgendeinem Grund die Kleider
abstreiften. Andere Klassen, deren Beruf es mit sich brachte, den Körper
öffentlich entblößt zu zeigen, ahmten sie nach - die
Zimmerleute, zum Beispiel, und die laufenden Groome (bettô); und die Tradition
erhielt sich, fast den ganzen Körper und die Glieder mit einer Jagd-,
Theater- oder sonst einer bestechenden Szene zu schmücken. Ein armer
Handwerker konnte bis zu hundert Dollar ausgeben, um sich auf diese Weise
vollständig dekorieren zu lassen." (Chamberlain 1991:601) @@@@ Hier ist schon auf die soziale
Streuung unter den Trägern von Tattoos verwiesen. Tamabayashi nennt
für die Edo-Zeit eine Menge von Berufsgruppen, unter denen Hautbilder
verbreitet waren: Flößer, Pferdetreiber, Schausteller wie z.B. Kraftprotze,
Kutscher, Schauspieler, die otokodate, Nachrichteneilboten,
Straßenräuber, Zimmerleute und Körperarbeiter jeder Couleur.
Auch Tagelöhner und Dienstpersonal, Halb- und Unterwelt ließ sich
den endgültigen Modeschmuck verpassen. @@@@ Erwin Bälz, der von
1876-1905 als Arzt und Lehrender in Tokyo tätig war, schätzte die
Zahl der Tätowierten in Tokyo allein auf 30.000 Männer. Er zeigte
medizinisch-kosmetisches und kulturgeschichtlich-ethnologisches Interesse an
den Hautdekorationen. Seiner Einschätzung nach waren es vor allem
Angehörige der unteren Schichten, die sich tatauieren ließen.
Tatsächlich war das Tätowieren unter (höher gestellten) Samurai
kaum zu finden (Rödel nennt Ausnahmen 1999:57f.) und Martischnigs Angabe,
Kaufleute ließen sich gerne tätowieren, beruht auf einem
Mißverständnis (Martischnig 1987:19)[12]. In der Edo-Zeit
wurden zwar Gesetze gegen Luxus und Protzerei mit Reichtum erlassen, aber diese
mit dem Erwerb eines aufwendigen Tattoo als Ersatz für die vorgeschriebene
schlichte Kleidung (die dafür auf der Innenseite bombastisch bestickt war)
zu umgehen, machte wenig Sinn, da Tätowierungen damals kaum als Luxusgut
angesehen wurden (vgl. Rödel 1999:41). 7. Erwin Bälz und die These vom Kleiderersatz @@@@ Erwin Bälz ist von der
Größe und Präzision der von ihm gesehenen Tätowierungen
beeindruckt. Er beschreibt die handwerklichen Aspekte des Hautstechens ziemlich
genau und kommt zu folgendem Urteil: "Was ist nun aber die Bedeutung der
japanischen Tätowierung im Gegensatz zu der anderer Völker? Die
Antwort lautet: Die japanische Tätowirung ist eine Kleidung, ein
Schmuck."
(Bälz 1884-88:44). Für diese, seine Hypothese gibt er mehrere
Begründungen an: .) Es sind nur Körperteile tätowiert, welche von Kleidung
bedeckt werden können .) Nicht alle Arbeiter, sondern vornehmlich die, die nackt malochen,
lassen sich hautdekorieren. "Die Leute lassen sich ihr Kleid auf den Leib
tätowiren und kommen sich und Anderen bekleidet vor." (Bälz
1884-88:44) .) Die Farbe der Tätowierung stimme mit der der Kleidung
überein: es handle sich um dasselbe unreine dunkle Blau. .) Die Tätowiervorlagen zeigten Motive, die auf den Kleidern von
Arbeitern, namentlich der Feuerwehrleute, zu finden sind. @@@@ Die Annahme, daß die
Tätowierung als Kleiderersatz diente, fand unter japanischen
Völkerkundlern und Historikern viel Anklang und nur vereinzelt Kritik (mit
Übertragungen aus Bälzen's Original: Koishikawa 1997:15-25). Tattoos
können natürlich nicht Kleider "ersetzen", wohl aber
Nacktheit überhöhen, übertönen, beschönigen. Die Kleiderersatzthese
ist, wenn dann, ja auch nur partiell griffig - für die "Nacktberufler"[13]. Neben diesen gab es
auch andere soziale Gruppen, die dem Tätowieren zugetan waren. Überdies
vermute ich, dass hier ein eurozentrischer Blick mitspielt. Bälz nimmt
vorerst - im Gegensatz zu seinen japanischen Zeitgenossen - die mit
entblößter Haut Arbeitenden als nackt wahr. Dann projiziert er das
Hautbild quasi als verhüllende Kleidung über diese Nacktheit und kann
so die Irritation, die der nackte Körper bei ihm auslöst,
überdecken. @@@@ Auch van Gulik reflektiert
über den Bezug der großflächigen Tätowierung zur Kleidung: "... it
may be evident that the tattooed areas are generally confined within the limits
formed by various garments, the shape conforming with the so-called happi coat commonly worn by workmen, or with
the various types of shirts and singlets either with short or half-length
sleeves. If these respective garments were worn, the entire tattoed area of the
body would be perfectly covered ... . Thus, it seems quite clear again that
tattooing functions as a form of clothing substitution, which in former times,
when the legal prohibition had made that necessary, had the important advantage
that the body tattoos could be rapidly and conveniently concealed." (Gulik
1982:101) @@@@ In einer Fußnote zitiert
er des weiteren Donald Richie, der eine Beobachtung aus jüngerer Zeit
anfügt. Diese betrifft das munawari, ein Tätowierdesign, bei
dem das Tuschbild auf der Brust nicht geschlossen wird, sondern ein zentraler
Mittelstreifen freibleibt. "... the munawari, the portion of the
chest not tattooed, has progessively widened over the years since the wearing
of Western shirts has become popular - the idea being that the tattoo should be
covered when it is not on display." (Richie und Buruma 1995:99) @@@@ Mini-Exkurs: Modeschöpfer
wissen durchaus um die Kleidsamkeit von Tätowierungen und durch sie
provozierte optische Täuscheffekte. Und inszenieren das Verdecken,
Transparentlassen oder Offen-Zeigen im Zusammenspiel mit den getragenen
Textilien. Dazu wird berichtet: "Jean-Paul Gaultier setzte bei der Show
für eine Kollektion, die durchscheinende T-Shirts mit Tattoo-Mustern und
echten wie vorgetäuschten Piercing-Schmuck fokussierte, reich
tätowierte und gepiercte Models ein. Gaultier sagte dazu: 'Es ging nicht
nur um diese primitive Geschichte, sondern auch um Dekoration. Mir gefällt
die Vorstellung des Körpers als Kunstwerk. [...] Es ist der Punk-Einfluß,
hat aber auch etwas Spirituelles'" (Steele 1998:166). @@@@ Zweifelsfrei ist das
Ganzkörperdesign das Charakteristikum der japanischen Tätowierung. Die
Symmetrie(rung) des Motives kann sehr wohl von der Kleiderform inspiriert sein
und ein großflächig tatauierter Mensch erzeugt aus der Weite
tatsächlich die optische Täuschung des Bekleidetseins. Eine Anpassung
an den Kleiderschnitt bringt auch eine bequeme Bedeckbarkeit mit sich, wenn
Sichtbarkeit unerwünscht ist. Es dürften aber auch rein
ästhetische Überlegungen dazu geführt haben, einer großen
Tätowierung eine symmetrische, gleichseitige Begrenzung zu geben, anstatt
sie formlos zerfleddern zu lassen. Auf alle Fälle hat die Tatauierung in
ihrem Zuschnitt nirgends so deutlich Kleiderform angenommen wie in Japan. Und
damit hat sie zweifellos von ihrer optischen Wirkung her etwas Ver- und
Überdeckendes, etwas Einhüllendes ganz wie ein bemalter transparenter
Stoff, womit Nacktheit neckisch kaschiert wird. Ein kleines Einzelhautbild
hingegen betont und unterstreicht kontrastiv die Nacktheit des restlichen
Körpers geradezu - deshalb wohl auch immer wieder die Rede von Erotik im
Zusammenhang mit Tattoos. @@@@ Die Ausdehnung einer
Tätowierung japanischer Art kann sehr unterschiedlich sein. Martischnig
hat einige Formen in seiner Abbildung 17 zusammengestellt. Die frontal offenen
Hautbilder verschwinden vollständig beim Tragen von vorne
schließender japanischer Kleidung. Beim zenshinbori@ oder sôshinbori - nicht senshinbori
(!)
wie Martischnig 1987:74 transkribiert -, also der veritablen
Ganzkörperverkleidung wird der ganze Oberkörper pulloverartig bedeckt
und auch das Beinkleid flächendeckend gestaltet. Martischnig verweist auch
auf die Grenz- und Abschlußformen bei Tattoos, die verschieden gestaltet
sein können: das sachte Ausklingen der Farben heißt akebonomikiri, ein Übergangsfeld
paralleler Linien, die wie Kiefernadeln aussehen, matsubamikiri - diese zwei Formen
sind technisch anspruchsvoll und eher selten geworden. Eine wellenförmige
Linie in Art einer Aneinanderreihung von Blütenblättern (botanmikiri) gilt heutzutage als
im Trend liegend, auch der abrupte Abschluß mit einer scharfen Grenzlinie
(butsugiri)[14] zur unbehandelten
Haut ist noch oft zu finden. 8. Der holistische Blick: der ganze Körper als potentielle
Bildfläche @ @@@@ Rödel kommentiert
Martischnigs Illustration unter Hinweis auf ein weiteres wichtiges
Charakteristikum der Tatauierung japanischer Art: "...
jedoch sind zum einen noch weitere Variationen als die dort abgebildeten
möglich, zum anderen ist es in der japanischen Tätowierkunst
jederzeit möglich, eine beispielsweise bis zum Oberarm gefertigte
Tätowierung ohne später erkennbaren Übergang bis zum Ellenbogen
oder bis zum Handgelenk weiterzuführen, weswegen Tätowierungen
kleineren Ausmaßes auch als Übergangssstadium angesehen werden
können, und nicht notwendigerweise an diesem Punkt beendet sein
müssen. Heute ist es allerdings üblich, stets beide Körperseiten
in symmetrischer Weise (bezogen nur auf die Ausdehnung, nicht auf die Motive)
tätowieren zu lassen, unabhängig davon, bis zu welchen Punkten die
Tätowierung reicht. In den ukiyo e dagegen finden sich relativ häufig
Tätowierungen, die zumindest ein Stück weit aus der Symmetrie
ausbrechen." (Rödel 1999:52) @@@@ Diese Ausweitbarkeit eines
Hautbildes spricht auch Horitsune, ein Tätowiermeister in Osaka[15], an, wenn er meint,
dass ein traditionell in japanischem Stil arbeitender Tätowierer immer den
ganzen Körper im Kopf oder vor Augen habe, auch wenn er nur ein kleines
Motiv steche. Ein Teil seiner Arbeit besteht auch in "Vertuschungen"
oder Übertuschungen alter oder obsolet und unliebsam gewordener oder
verpfuschter Motive. Das ist handwerklich ausgesprochen anspruchsvoll. In
jüngster Zeit hat eine andere Nachfrage auffallend zugenommen: viele junge
Leute kommen zu Horitsune, um verstreute Einzelbilder in ein traditionelles
japanisches Tattoo ausweiten oder einarbeiten zu lassen. Sie haben sich ein
oder mehrere Modebildchen stechen lassen und in der Begegnung mit der Welt der
Tätowierung sind ihnen die Augen aufgegangen für die japanische
künstlerisch hochstehende Hautschmucküberlieferung. Sie wollen nun
etwas "Authentisches" haben. Das bedeutet meist auch, dass ihre
Bilder in einen symmetrischen "Rahmen" (gaku) eingearbeitet
werden. Damit wird dann aus Streumotiven ein echtes Hautkleid. @@@@ Zur ganzheitlichen Vision oder
Visualisierung der getuschten Körperzier berichtet Rödel von Nakano
Yoshihito (Künstlername: Sandaime Horiyoshi), dass dieser ein Hautbild wie
ein Triptychon sieht: Die Tätowierung habe man sich vom Körper
abgelöst und aufgeklappt vorzustellen - unabhängig von ihrer
Ausdehnung. Es müsse dann ein zusammenhängendes Bild entstehen,
dessen Hauptmotiv sich in der Regel auf dem Rücken - und somit im Zentrum
des Hautgemäldes - befinde (Rödel 1999:50). @@@@ Das Gesamtbild muss auch in
seinen einzelnen Motiven stimmig sein. In der japanischen Dichtung und Malerei
gibt es alteingespielte Konventionen z.B. in bezug auf Jahreszeitenfanale und
Darstellungsformen. Kirschblüten (Frühling) und purpurfarbene
Ahornblätter (Herbst) können - um ein einleuchtendes Beispiel zu
geben - nicht in ein Bild gezwungen werden. Bei religiösen Bildern ist die
Kraft der Tradition besonders wirksam: Bodhisattwas etwa müssen
naturgemäß mit den richtigen Attributen versehen oder den korrekten
Handhaltungen dargestellt werden. @@@@ Apropos Motiv: da möchte
ich mir zwei dem Doppelsinn des Wortes gerecht werdende Exkurse erlauben: zu
den Fragen, was und warum sich Leute stechen lassen. 9. Zu den Bildmotiven @@@@ Zur Frage, was man/frau sich
hautgravieren läßt, sei vorab bemerkt: Tattoos werden von ihren
Trägern häufig mit Distinktionsabsichten oder "individuellem
Ausdruck" und Unikatsansprüchen in Verbindung gebracht. Die Praxis
spricht aber eine deutlich andere, nämlich nivellierende Sprache. Es gibt
gewisse Sets an Motiven, die gruppen- oder milieuspezifisch, sowie kulturell
sanktioniert sind und auf die eindeutig am häufigsten zurückgegriffen
wird. Man denke an den Anker des Seemannes, den Totenkopf des Rockers oder den
Drachen des japanischen Feuerwehrmannes. Zu Distinktions- und
Individualitätsstreben qua Hautbild meint Berit, eine
Tätowierkünstlerin aus Berlin, in einem Interview mit dem Zeit-Magazin:[16] "... Unsere
praktische Erfahrung ist eine ganz andere. Achtzig Prozent aller Kunden
nämlich wünschen Massenmotive und Massenabbildungsarten. ... Dieser
Individualismus ist ein Trugbild des Kapitalismus. Es sollen nur Sachen besser
verkauft werden. Sie existieren nicht als Einzelerscheinung, sondern sie sind
kultureller Bestandteil einer ganzen Kulturgruppe, die sich geeinigt hat,
daß bestimmte Sachen das und das bedeuten ... Das mit der
Individualität ist fadenscheinig." (Glinski 1997:24f.) Die
Hautbildnerin verweist aber auch darauf, dass die westliche Tätowierung
für viele Einflüsse offen ist. Aus der Kunst sind es Pop-Art,
Jugendstil oder Airbrush-inspirierte Hautmalweisen, die neue Impulse geben. Die
Ethnomode brachten sogenannte tribals, an aztekische Muster erinnernde
ornamentale Formen oder keltische Tattoos aufs Tapet oder besser auf die Haut. @@@@ Dass Tattoos entlang der
Linien Konventionalität, erwünschter Wiedererkennbarkeit und
eingespielter Symbolik gewählt und entworfen werden, hat durchaus wieder
Tradition. Die europäische Tatauierung nach Cook kreiste um
Südseemotive, die die Seeleute mitbrachten, religiöse Ikonographie
(z.B. Kruzifix) und Zugehörigkeits-, Erinnerungs- oder
Identifikationszeichen (so Oettermann 1994:46ff.). Die Interferenz von
Südseetechnik und europäischer Bildvorstellung gebiert eine neue Art
des Hautstichs. Tahiti war im übrigen auch Projektionsfläche für
allerlei Paradiesvorstellungen und unter Seeleuten war z.B. eine Palme oder
Schlange ein beliebtes, wenn nicht gar obligates Motiv, das dann von anderen
Milieus übernommen wird. Die Einflüsse der Emblematik tun ein
weiteres, um eine gewisse Uniformierung einzuleiten, die in den Bildkatalogen
kulminiert, aus denen der Kunde vermeintlich "sein" Motiv
auswählt. "Indem
beide, Emblematik und Tätowierung die disparatesten Fundstücke zu
einem Bild zusammenzwingen, um immer neue Bedeutungen und Bedeutungsnuancen zu
kreieren, sind sie eher von der Bedeutung der Fundstücke als von ihrer
optischen Qualität her konstruiert. Der formalen Geschlossenheit des Tätowiermotivs
im Ganzen, die der des Emblems ähnelt, und die trotz der Disparatheit
seiner Teile erreicht wird (wobei zur Unterstützung das Motiv gelegentlich
medaillonartig gerahmt wird), entspricht eine Geschlossenheit der Bedeutung,
die zwar nicht so festgelegt wie im Emblem, sondern in bestimmten Grenzen
changierend, aber keinesfalls beliebig ist. ... Die Bedeutungen mögen
allgemein und traditionell gewußt sein oder nicht, in jedem Fall lassen
sie sich beim Tätowierer, dessen Vorlagealben nicht zufällig den
barocken Emblembüchern auf den ersten Blick gleichen, erfragen."
(Oettermann 1994:53 u. 54). @@@@ Auch in Japan gab und gibt es
- unabhängig von der Größe des Tattoos -, eine Art Hitliste
traditioneller und bis heute beliebter Motive, die wahlbestimmend ist[17]. Ich beschränke
mich auf die bildhafte Tätowierung und bestimmte Bereiche, aus denen ich
exemplarisch einige Hauptoptionen nenne: @@@@ Religiös inspirierte Bilder:
Fudô Myôô (vgl. Fußnote 7), eine Kannon (sanskrit:
Avalokiteshwara)[18] oder einen Dainichi
Nyorai (sanskrit: Mahâvairocana) aus dem buddhistischen Kontext.
Sturmgott oder Donnergott sind ebenfalls beliebt und entstammen dem
schintoistischen Pantheon. Aus Legenden- und Fabelwelt sind Suikoden-Helden
nach wie vor populär. Als Spezialität gibt es hier die so genannte
"Doppeltatauierung" (nijûbori): und zwar dann, wenn der in die
Haut punzierte Rebell wiederum mit einem Tattoo abgebildet ist. Drachen sind
ausgesprochen nachgefragt - sie sind in China und Japan ja symbolisch positiv
besetzt. Hannya-Masken geistern auch gerne auf Häuten herum, das sind
stilisierte Masken aus dem Nô-Theater, die eine zürnende Megäre
darstellen und furchterregend wirken sollen so wie abgeschlagene Köpfe
oder Gespenster, die auch noch zuweilen, wenn auch nur epidermisch, herumspuken. @@@@ Aus dem Bereich der Fauna sind
Karpfen ein häufig ausgesuchtes Motiv. Sie gelten als zäh, ausdauernd
und langlebig. Eigenschaften, die man sich quasi analogiezauberisch auf und
unter die Haut übertragen lassen möchte. Löwen, Tiger,
Schlangen, Adler, Schmetterlinge etc. als bildliche Träger ihrer je
eigenen Symbolik erfreuen sich auch großer Beliebtheit.@@ @@@@ Die Flora wird oft in
dekorativer Manier eingesetzt oder unter die Haut gestanzt. Sie muss
ikonographisch zum Hauptmotiv passen. Kirschblüten, Päonien, Winden,
Ahornblätter, Chrysanthemen, Pflaumenblüten, Zierapfelbaumblüten
(eine Rosenart: malus halliana) gehören zum Standardrepertoire jedes
japanischen Tatauierungskünstlers. @@@@ Als Beispiele für
"bildhafte allegorische" Tattoos (so nennt sie Tamabayashi
1956:296ff.) können Berufsabzeichen gelten, wie z.B. das Gildenabzeichen (matoi) unter
Feuerwehrleuten oder ein Fuchs oder eine Spinne bei Prostituierten. Dem Fuchs
werden in der japanischen Folklore alle möglichen Streiche, die er den
Menschen spielt, zugeschrieben, er kann hexen und ist selbst oft eine
verzauberte Frau. Der Spinne sollen ganz einfach analogiemächtig viele
Kunden ins Netz gehen. Spieler ließen sich Würfel hautgravieren,
Trinker Sakeschalen, auch als Gelöbnis von ihrem Laster abzulassen.
Geishas ziert zuweilen eine Shamisen oder ein Plektron ähnlich wie
Meergetier Fischer oder der Anker den Seemann. Hier wird deutlich, dass das
Hautbild als Gruppenzugehörigkeitsmerkmal dienen kann. Diese Funktion wird
für Japan besonders hervorgestrichen (bei Richie und Buruma 1995:57ff.).
Dem Hautstich kann auch eine initiatische Bedeutung als rite de passage zukommen, mit der die
Aufnahme in eine spezifische Gruppe besiegelt wird. Obige Autoren erwähnen
auch andere Deutungsmöglichkeiten für Tätowierungen: als
Selbstdefinitionselement, Talisman oder einfach Verschönerung. Sie
unterstellen dem Tätowierwilligen sogar leicht masochistische Neigungen
(Richie und Buruma 1995:78). Damit befinden wir uns schon auf dem Terrain der
z.T. mit ziemlich bizarren Spekulationen verbundenen Mutmaßungen
bezüglich der Beweggründe fürs Tatauiertwerden. 10. Wozu Tattoo? @@@@ Die Motive, sich stechen zu
lassen sind ausgesprochen divers. Aus einem Literaturüberblick entnommen
und aufgelistet werden u.a. folgende Erwerbsgründe (aus: Friederich
1993:22-49, Kap. 2.3. "Behandlung der Thematik in der Literatur") -
ich referiere lediglich: Dummheit, Nachahmung, Überredung, Spielerei,
Mode, Alkoholeinfluß, sexueller Reiz, Übermut, Stumpfsinn in
langweiligen Stunden, Befriedigung einer perversen Großmannssucht,
Produkt des Augenblicks, des Rausches, des Milieus; Freude am Bilde,
narzistische, autoerotische Neigung, Angeberei, gruppendynamische (z.B.
haftbedingte) Prozesse, individueller Widerstand gegen gesellschaftliche
Strukturen und bestehende Herrschaftssysteme, Unüberlegtheit etc. Die
moralischen Zwischentöne oder -rufe bei einigen dieser Zuschreibungen sind
unüberhörbar, auch dürften die meisten der genannten
"Motive" eher kleinflächige Tattoos betreffen. @@@@ Als Beispiel für die
schon reichlich mystifizierenden Begründungen, die Tattoo-Enthusiasten
für die Applizierung ihres permanenten Make-ups finden, sei Michelle
Delio, Herausgeberin der Fachzeitschriften Tattoo Revue, Skin Art und @Tattoo Expo, zitiert: "Bei
sorgfältiger Auswahl der Motive verfügen Tattoos über eine
eigene Kraft und Magie. Sie verzieren den Körper, wirken jedoch auch
stimulierend auf die Seele. ... Meine Tattoos offenbaren dem wirklich Sehenden
die Wahrheit. Wenn ich mich im Wirrwarr des Alltags verliere, erinnern sie mich
an mein Selbst. Sie sind gleichermaßen alte knorrige Wurzeln, die mich
mit meiner Vergangenheit verbinden wie auch ein beherzter Brückenschlag in
die Zukunft. Sie erzählen meine Geschichte und veranschaulichen meine
persönliche Rätselhaftigkeit. Sie verleihen mir Kraft, erinnern aber
auch an meine Sterblichkeit." (Delio 1994:13). Letzteres hingegen bleibt
ein Skandalon: ein Hautbild geht mit dem Tod seines Trägers den Weg alles
Irdischen. In Japan ist Feuerbestattung die Regel: Tattoos gehen irgendwann in
Rauch auf. Und sind damit durchaus ein Sinnbild und Inbild der
Vergänglichkeit. @ @@@@ Von der Funktion her gesehen,
lassen sich Tatauierungen betrachten als: Verschönerung, Schmuck,
Kleiderersatz, Mimikry, Abschreckungsmittel, rituelle, magische,
religiöse, apotropäische Schaubilder, soziales Kennsignal, rechtliche
Sanktion (Strafe) etc. (dazu im einzelnen: Oettermann 1994:10f.). "Auf
abstraktester Ebene kristallisieren sich drei Bedeutungen aus den genannten
Funktionen der Körperbemalung und den ihr verwandten Techniken heraus: 1.
Bestimmung (bzw. Verdeckung) der eigenen Identität und Rolle im sozialen Gefüge; 2.
die Möglichkeit der Identifizierung durch andere, als der, der man ist; 3. so kommt
ihr eine übergreifende kommunikative Bedeutung zu, die über den Austausch der
Individuen in spontaner Interaktion hinausgeht. Kurz: Körperbemalung und
vor allem Tätowierung, Brandmarkung und Narbenzeichnung stellen in ihrer
Bedeutung eine überindividuelle - gleichwohl ans Individuum gebundene (und
dieses dadurch mitbedingende) - Kodifizierung gesellschaftlicher Praxis
dar." (Oettermann 1994:12, Hervorhebungen im Original) @@@@ Es
ist im besonderen die kommunikative Seite der Tatauierung, die ihren Signal-
und Signumscharakter deutlich, ja unübersehbar macht. Dahinter verbirgt
sich auch das aufreizende Spiel der Ver- und Enthüllung, des Verbergens
und demonstrativen Zur-Schau-Stellens von Hautmalereien. Gesichts- und Hand(rücken)tattoos
sind, wenngleich nicht unbekannt, zu den Seltenheiten zu rechnen. Das zeigt
auch, dass die Verdeckbarkeit von Tätowierungen prinzipiell erwünscht
bleibt. 11. Ausblick: rezente Trends und/oder: nie wieder ganz nackt! @@ @@@@ Tätowierungen erleben -
wie eingangs erwähnt - in Japan ebenso wie in Europa einen Boom - oder
sind schon wieder passé, da Body-Art-Formen mit größerem,
d.h. noch gegebenem Schockwert gesucht werden (so vermutet von Steele 1998:166).
In Deutschland geht die Kundschaft quer durch alle sozialen Schichten, wie
selbst eine englischsprachige Zeitung in Japan zu vermelden weiß (Coonan
1996). In Japan lassen sich vermehrt Jugendliche aus folgenden Milieus
künstlerisch hautbehandeln: Aktionssportszene (Surfer, Skateboarder,
Motorsport etc.), Rock- und PopmusikerInnen und deren Fans, Hiphop- und
Disco-Szene,@ Drifter am Arbeitsmarkt
und Aussteiger verschiedener Couleur. Die Tatauierung bleibt in Japan damit
noch eine Erscheinung, die einen der Mitte zu breiter werdenden
gesellschaftlichen Rand betrifft. Die mentale Barriere gegen Tattoos ist aber
merklich kleiner geworden, besonders unter jungen Leuten. Schon zeigen Musiker
auf Werbeplakaten oder im Fernsehen ihre Hautverzierungen. Vor zehn Jahren
wäre das in Japan kaum denkbar und karriereschädigend gewesen.
Aufgrund des Vorurteils, das Hautbilder sofort und fast ausschließlich
mit Yakuza (dazu näher z.B. Herbert 2000b und c) in Zusammenhang bringt,
gab/gibt es starke Vorbehalte gegen Hautverzierungen. Mit der
größeren Verbreitung von Hautbildern sinkt aber deren kriminelle
Konnotation - hingegen auch ihr Distinktionswert. Schmuckbedürfnis
dürfte heute wohl eine der Hauptmotivationen für den Erwerb eines
Hautbildes sein, wenngleich noch mit dem provokatorischen Aspekt gespielt und
geliebäugelt wird. Residuale abergläubisch-magische Vorstellungen
können bei der Motivwahl mitschwingen. Der Tattoo-Erwerb wird von einem
komplexen Motivsyndrom bestimmt, das individuell sehr unterschiedlich sein kann
- leider gibt es dazu keine großflächigen empirischen
Untersuchungen. Ich kann mich hier auch nur auf die eher impressionistischen
Aussagen von Tätowierern und einzelnen Tätowierten verlassen. @@@@ In Japan sind neben traditionellen
großflächigen Hautdekorationen kleinflächige so genannte one
point tattoos westlicher Art und Motivik im Schwange. Dabei gibt es interessante und
innovative Adaptionen, Übernahmen, Über- und Umarbeitungen, die alle
in verschiedenem Grade von der japanischen traditionellen Tätowierart und
-technik mitgeprägt sind. Umgekehrt lassen sich amerikanische und
europäische TätowiererInnen vom japanischen Stil inspirieren. Das
ästhetische Niveau westlicher Tattoos hat davon entscheidend profitiert.
In der westlichen künstlerischen Tatauierung gibt es eine eigene
Stilrichtung, die sich Oriental nennt und sich konzeptuell und motivisch stark an
die japanischen horimono @anlehnt (vgl. Delio
1994:17 und respektive Fotos in ihrem Bildband). Die japanische Art der
Tatauierung hat von der westlichen ebenfalls mächtige Impulse erhalten.
Sie hat ihre eingespurten Konventionen verlassen und das Trägheitsmoment dekadealter
Traditionen überwunden. Es hat sich eine Art Mischstil entwickelt, in dem
sich eine internationale Bildsprache artikuliert. Davon zeugt reich illustriert
und eindrucksvoll das von Dirk-Boris Rödel herausgegebene Tätowiermagazin-Sonderheft Extra 2:
Japan
(Mai 2000), in dem sowohl konventionell wie modern arbeitende japanische
Tattookünstler und ihre Arbeiten porträtiert und präsentiert
werden. @@@@ Dies zeigt auch, wie lebendig
die Tätowierkunst in Japan heute ist und wie in ihr Tradition und Moderne simultan
und synergetisch zusammenwirken. Und die Tätowierung ist buchstäblich
eine "lebende" Kunst, eine sehr ephemere zumal. Vergänglich wie
der Mensch, ist sie von ihm durch alle Zeiten und Kulturen praktiziert worden,
so als sollte der Nacktheit ein Stempel des Ungenügens aufgedruckt werden.
Nirgends näher kann Kunst sein als unter der Haut. Und nichts kann
näher, gewissermaßen intimer und zugleich exponierter oder derart
exponabel sein wie eine Hautverzierung. Sie schillert vexierend zwischen
Nacktheit und sie verdeckender, überlagernder oder transformierender Bildhaftigkeit.
Sich Kunst und damit Kultur auf die blanke Haut prägen zu lassen, wird
auch weiterhin seine Anhänger und aficionados finden - und seine
Gegner. Das spricht für den besonderen Reiz (in all seiner Doppelbödigkeit),
den ein Hautbild ausübt. Ist es, weil damit der Kaiser nie wirklich komplett
ohne dasteht? Literatur: Adami, Norbert R. "Zum Phänomen des Tatauierens auf den japanischen Inseln. Monographien in
westlichen Sprachen", OAG-Rundschreiben Nr. 6, Juni 1991, o.S. unter:
Buchbesprechungen Bälz, Erwin "Die körperlichen Eigenschaften der Japaner. Zweiter Teil
(1)," Mittheilungen der Deutschen Gesellschaft für Natur- und
Völkerkunde Ostasiens in Tokio Band IV (Heft Nr. 31-40 incl.)
1884-1888, 32. Heft, 35-103 Bird, Isabella Unbetretene Pfade in Japan@
[Unbeaten tracks in Japan 1880]. Hg. und mit einem Vorwort
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Untersuchung in der Gegenwart. Würzburg: Könighausen & Neumann 1993
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Panel-Bericht von der JAWS-Sektion bei der EAJS-Konferenz in Lahti,
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konkursbuchverlag Claudia Gehrke 1998, 321-339@
Herbert, Wolfgang "Feature: Die japanische Tatauierung", OAG Notizen 3/1999, 6-17 Herbert, Wolfgang "Horitsune
II. Ausstieg aus dem System", Tätowiermagazin Extra 2: Japan, Mai 2000a, 6-12 Herbert, Wolfgang "Eine Yakuza-Kurzgeschichte", Tätowiermagazin Extra 2:
Japan,
Mai 2000b, 82-87 Herbert, Wolfgang "The Yakuza and the Law", in: Eades, Gill und Befu 2000c:
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Diederichs 1997 (= Diederichs Gelbe Reihe 33: Indien) Erschienen in: Kerstin Gernig (Hg.): Nacktheit. Ästhetische
Inszenierungen im Kulturvergleich. Köln, Weimar & Wien: Böhlau
2002, 205-240 Biobibliographische Angaben: Wolfgang HERBERT, Dr. phil., Jahrgang 1960. Studium der Philosophie,
Religionswissenschaften, Kriminalsoziologie und Japanologie auf der
Universität Wien. Promotion 1993 im Fachbereich Ostasienwissenschaften/
Japanologie. Lehraufträge an den Universitäten Wien (1991-1992),
Nürnberg/Erlangen (1992) und Innsbruck (1998), seit 1994 Dozent für
Soziologie, Vergleichende Kulturwissenschaften und Deutsch als Fremdsprache an
der Universität Tokushima/ Japan Forschungsschwerpunkte sind soziale Randgruppen in Japan, namentlich:
Yakuza (Organisierte Kriminalität), illegale Arbeitsmigranten und
Tagelöhner. Gegenwärtig Vorbereitung einer größeren Studie
zum Thema: Gesellschaftliche Ausgrenzung von Sterbenden. Publikationen: Foreign workers and law enforcement in Japan. London & New
York: Kegan Paul International 1996 (= Japanese Studies Series). Zahlreiche Aufsätze
zu Yakuza, Tagelöhnern und Obdachlosen, illegalen Arbeitern,
Tätowierung japanischer Art. Kleinere literarische und literaturkritische
Arbeiten (insbesondere zu Paul Nizon). Wolfgang Herbert @@@@@@@@@@@@@@@@@ Nackte und
bunte Haut. @@@@@@@@@@@@@ Tatauierungen als
Ver-Kleidungen Resümee @@@@ In diesem Beitrag wird die
künstlerische Tätowierung als Modetrend und Teil eines neuen Körperkultes
vorgestellt. Historische Linien werden in die Südsee und insbesondere nach
Japan gelegt. Dort ist die Tatauierung in Form einer veritablen
Ganzkörperverkleidung seit Mitte des 19. Jahrhunderts verbreitet. Es wird
der Vorgeschichte und der Entstehung dieses hautkleidartigen Zuschnittes sowie
der Wechselwirkung zwischen Hautverzierung und Holzschnittkunst nachgegangen.
Personal läßt sich dies am deutlichsten an Utagawa Kuniyoshi (1798-1861)
festmachen, der mit seinem künstlerischen Umfeld ins Visier genommen wird.
Von ausländischen Japan-Reisenden und Residierenden stammt die These, die
Ganzkörpertätowierung habe als Kleiderersatz gedient. Sie wird in der
Gestalt, die ihr der deutsche Internist Erwin von Bälz (1849-1912) verlieh,
vorgeführt. Illustrierend werden auch die Kundschaft der
Tattoo-Künstler beschrieben, ihre Lieblingsbilder beleuchtet und über
die Motive, ein Hautdekor zu erwerben, referiert. Ausblickend werden rezente
Trends in der Tattoo-Szene mit Schwerpunkt Japan eingefangen und einige
Einfälle zum Verhältnis Nacktheit und Hautverzierung dargeboten. [1]Dazu gehören zweifelsohne viele Dinge mehr: die ganze Fitness- und Wellness-Welle, das "Body-Styling" mit diätetischen und sportiven Mitteln, künstliche Sonnenbräune und Haarefärben etc. Letzteres war auch unter Jugendlichen in Japan bis zur Jahrtausendwende dernier@ cri - plötzlich waren sie zuhauf blond, kastanienbraun- oder rot-, selbst blau- und grünhaarig. [2]Die deutsche Schreibweise schulde sich einem Transponierungsfehler aus dem Englischen, wobei "vollkommen unmotiviert" ein "w" eingeführt worden sei (Wilhelm Joest zitiert in Friederich 1993:15). Parallel zum "Tätowieren" hat sich die Transkription "Tatauieren" denn auch gehalten. [3]Eine völkerkundliche Zeitschrift bietet verdienstvollerweise in einer rezenten Sonderausgabe über Tattoos eine chronologische Bibliographie von japanischen Werken über Tätowierungen. Sonstige Textbeiträge befassen sich bezeichnenderweise mit Tätowierungen von Verbrechern und Fischern bzw. Matrosen - womit in alten Fahrwassern gerührt wird (Rekishi Minzokugaku Kenkyûkai 2000)@ [4]Zu weiteren Werken in westlichen Sprachen vgl. Adami 1991 [5]Eine Übertragung ins Englische von Pearl S. Buck erschien erstmals in New York 1933 unter dem Titel: All men are brothers. [6]In akkurat diese Ära fällt ein nie dagewesener Tätowierboom, dazu später; Fußnote v. Verf. [7]"Der Unbewegliche" ist eine Manifestation des wilden Aspektes des "Sonnen"-Buddha Mahâvairocana. Zuweilen als "Feuergott" bezeichnet, da er immer mit einer Aureole purpurn flackernder Flammen dargestellt wird. Er ist ein grimmiger Zerstörer allen Übels und Hüter der Lehre, auf Sanskrit heißt er Acala Vidyârâja. [8]An der Herstellung eines Holzschnittes waren mehrere Personen beteiligt (vgl. Brandt 1984:777), wobei nur der Maler namentlich zeichnete und bekannt wurde. Die handwerkliche Umsetzung bewerkstelligten die Holzschneider und Drucker, die mutmaßlicherweise später im professionellen Tatauieren einen Weg sahen, sich selber namentlich hervorzutun. [9]Daneben gibt es ein Menge Bezeichnungen, deren populärste irezumi ist. Das heißt wörtlich "Tusche einbringen", demarkierte aber ursprünglich die Strafzeichnung und hat noch diese Konnotation. Die neutraleren Ausdrücke shisei oder bunshin sind weniger bekannt. Eine historische Zusammenstellung der Hautbildbezeichnungen findet sich in: Gulik 1982:15). [10]Genau genommen: tobi no mono oder tobiguchi no mono, beides in Anspielung auf den Schnabel des roten Milans (tobi) als Metonym zum Feuerhaken. [11]Kuruma heißt eigentlich "Wagen", gemeint sind Rikschas, das Wort kommt vom japanischen jinrikisha, "von der Kraft eines Menschen betriebener Wagen", W.H. Übrigens berichtet Bird auch von tätowierten Flößern (Bird 1990:23f.) und Kulis (Bird 1990:64) [12]Auch sonst strotzt seine sehr penible Arbeit von sozialhistorischen und tätowierterminologischen Schnitzern, dazu: Kaneko 1989 [13]Die Männer waren nicht vollständig nackt, sondern hatten ein Lendentuch (fundoshi) um die Leibesmitte geschlungen. [14]Nicht bukkiri@ wie ich (Herbert 1999:329) oder bukiri@ wie Richie (1995:99) fälschlicherweise lesen. Wer weitere Termini aus dem Tätowiererjargon kennenlernen will: siehe Herbert 1998:329ff. oder Gulik 1982:99ff. [15]Mehr über ihn in Herbert 1998, 1999, 2000a; auf Japanisch: Ogura 1994 [16]Dieser Erscheinungsort indiziert gleichzeitig wie respektabel die Tätowierung mittlerweilen in Deutschland geworden ist. [17]Eine kleine Auswahl mit schönen Bildvorlagen des Meisters Horihide findet sich im Tätowiermagazin Extra 2 Japan, 89-96. Ganz herausragendes Fotomaterial sowohl zu Ganzkörpertätowierten als auch einer Vielzahl von Einzelmotiven findet sich in: Fellman 1986 [18]Die Kannon verkörpert die transzendentale Weisheit und allumfassendes Mitleid. Auf ihrer langen Reise und Metamorphose vom indischen Urbilde des Allerlösers Padmapâni ("Lotos in der Hand") zur chinesischen Kuan-yin und schließlich der japanischen Kannon hat sich der weibliche Aspekt durchgesetzt - "als ob die Göttin zu ihrer archetypischen Natur zurückkehrte", wie Zimmer in seiner atemberaubenden Interpretation der Symbole der großen Göttin bzw. des Lotos schreibt (Zimmer 1997:102-115, hier:110). |