"Intellectuals
were always hung up with the feeling that they weren't coming to grips with
real life. Real life belonged to all those funky spades and prize fighters and
bull fighters and dockworkers and grapepickers and wetbacks." Tom Wolfe Wolfgang
Herbert Horitsune
- ein Tätowierkünstler aus Osaka. Zugleich eine kleine
Sozialgeschichte der Tätowierung japanischer Art. Ein
Sirren liegt in der Luft. Es riecht nach einem Gemisch von Tusche,
Schweiß und Tabakrauch. Das zikadenartige Geräusch schwillt an und
ab. Die Beleuchtung ist leicht schummrig. Nur unter dem Lichtkegel einer Art
Leselampe mit verstellbarem Arm ist es hell. Dort liegt bäuchlings ein
Mann auf einer Futon. Neben ihm sitzt der Meister in der Hocke und bearbeitet
den Rücken des Kunden mit einer Maschine, die diesen gedämpft
nähmaschinenähnlichen Ton von sich gibt. Um ihn verstreut stehen
etliche Tiegel mit verschiedenen Farben, zwei Bottiche mit Wasser. Nadeln,
elektrische Tätowierapparate und anderes Handwerkzeug liegen griffbereit
herum. Der Spiegel an der Wand trägt groß die Schriftzeichen
für "Horitsune", den Künstlernamen des Tätowierers.
Einige buddhistische Altarbilder zieren die Wände. Sie sind von Horitsune
gemalt und verleihen dem Ort eine nahezu sakrale Atmosphäre. Wir sind im
Studio eines japanisches horishi - so heißen hier die
Hautbildner. Bei der Arbeit spricht er so gut wie nichts. Er arbeitet
stundenlang konzentriert und nahezu pausenlos. Horitsune ist ein Tätowierkünstler.
Und um hohe - wenngleich bislang verfemte - Kunst geht es hier in der Tat. Um
die Kunst des Hautstichs. Spitze Kunst. Abends entspannt sich Horitsune,
bürgerlich heißt er Akimitsu Yôsuke, im Lokal seiner Frau, das
sich gleich unter dem Studio befindet. Er genehmigt sich seinen täglichen
Shôchû (ein rund 40%iges schnapsartiges Getränk), wird gesprächig
und gesellig, raucht genüßlich und plaudert mit den Gästen. Zu
diesen zählen biedere Angestellte und Arbeiter ebenso wie ein Querschnitt
durch die oberen und unteren Randbezirke der japanischen Gesellschaft:
Ex-Boxer, Sumostallbesitzer, aktive und ehemalige Yakuza, Nachtclubangestellte,
Rock- und Reggaemusiker, Lokalpolitiker, Universitätslehrer, Transvestiten,
Journalisten oder Polizeibeamte. Letztere kommen manchmal aus beruflichen
Gründen, wenn es zum Beispiel um die Identifizierung einer
tätowierten Leiche geht und Horitsune um Rat und einen Hinweis gebeten
wird, von wem ein bestimmtes Hautbild stammen könnte. Kaum jemand kann
sich der "Aura" Horitsune's entziehen. Er strahlt Bescheidenheit,
Willensstärke, In-sich-Ruhen und vor allem eine enorme
Verständnisbereitschaft aus. Hat er es doch mit Lebensverlierern und
-gewinnern jeder Couleur zu tun und hegt instinktiv Sympathie mit allen Ausgegrenzten.
Zudem hat er den gefestigten Charakter dessen, der sich in einer "solide"
und sonstige Lebensbahnen kräftig bis unausweichlich vorspurenden
Gesellschaft außerhalb dieser "durchgekämpft" hat. Ich
beobachte in Japan immer wieder - besonders auch bei Frauen -, daß Leute,
die sich gegen den Strich sozialer Erwartungen und Ligaturen ihrem Lebenstraum,
ihrer Traumbeschäftigung verschrieben haben, markige, starke, interessante
Charaktere entwickeln - bläst ihnen der soziale Gegenwind viel
stärker entgegen als in pluralistischeren, offeneren Umgebungen. Horitsune
hat sich buchstäblich mit Haut und Haaren seinem Gewerbe hingegeben - und
eine Contenance, die signalisiert, daß er seinen Sitz im Leben gefunden
hat. Wir sind in Nihonbashi, nicht weit entfernt
vom allabendlichen Gewimmel des Vergnügungsviertels Nanba, mitten in
Osaka. Vom Bahnhof Nanba geht man einige hundert Meter durch den seit
Edo-Zeiten bestehenden Fischmarkt Kuromon. Aus dem Beton- und Glaskastendschungel
tritt man in eine Einkaufspassage, die einen richtig "asiatisch"
anmutet. Es - tut mir leid - stinkt nach Fisch, Händler preisen mit
heiseren sonoren Stimmen ihre Waren an und feilschen mit den Kunden und
Kundinnen. Am Eck spielen etwas zwielichtige Männer Mah-Jongg auf der
Straße. Keine fünfzig Meter weiter stößt man auf das
Schild des Meisters, auf dem Horitsune Nidaime steht (er ist also der zweite = nidaime in einer Meisterlinie).
Hier befindet sich auch das Lokal, das seine Frau betreibt. Sie trägt eine
prunkvolle Kannon an einem Wasserfall als Hautbild (ein
"Frühwerk" ihres Mannes) auf dem Rücken. Dieses bekommen
indessen höchstens (weibliche) Mitbenützer des nahegelegenen
öffentlichen Bades zu Gesicht. Deren Kommentare variieren, aber viele
seien davon fasziniert, wie mir die Wirtin erzählt. Ehefrauen von horishi sind angeblich
häufig tätowiert. Natürlich auch der Meister selbst. Und als
solcher ist er im sentô , dem Badehaus in der Nachbarschaft, sofort zu
erkennen. (Viele sentô oder onsen, d.s. Kurbäder über
Thermalquellen, untersagen allerdings Hautdekorierten den Zutritt). Sein
Oberkörper wurde von seinem Lehrherrn kunstvoll verziert. Aber die Beine! Horishi pflegen in ihrer
Lehrzeit an ihrem eigenen Körper zu experimentieren und haben deshalb in
der Regel wild zerstochene Beine mit allerlei unfertigen und
unzusammenhängenden Bildchen. Sie bleiben durch diese Probesticheleien ein
Leben lang gezeichnet. Diese sind aber auch Ausweis dafür, daß sie
die verschiedenen Techniken fleißig geübt haben. "Je mehr
Patchwork und Pasticcio auf den Beinen, desto besser", meint Horitsune
belustigt, gilt dies doch als sichtbarer Beweis für hingabevolles
Training. "Früher hieß es, man möge mit drei Tage lang
getrockneten Rettichen üben, diese hätten eine ähnliche
Konsistenz wie die menschliche Epidermis, aber mir war dies zu langweilig, ich
habe gleich bei mir selbst den Anfang gemacht", fügt er hinzu. Die
Rettich-Angabe hatte er in einem Buch gefunden, das er in allen Ehren
aufbewahrt und als die "Bibel" für Tätowierer bezeichnet.
Es handelt sich um das 1956 in der begrenzten Auflage von tausend Stück
bei Bunsendô erschienene Bunshin hyakushi von Tamabayashi Haruo
(Seirô?), der damit in sitten- und gebräuchegeschichtlicher Absicht
eine penible Historie der japanischen Tätowierkunst vorgelegt hat1 . Er ist für den
folgenden groben diachronen Abriß mein Kronzeuge, den ich nicht im
einzelnen zitieren werde. Allzuviel zitable Literatur gibt es ohnedies nicht -
das Thema gilt "seriösen" Wissenschaftlern wohl als zu
vulgär und unschicklich. Sucht man nach den ersten schriftlich
dokumentierten Hinweisen auf Tätowierung in Japan, so findet man jene in
den mythologischen "Geschichtsquellen" Kojiki (712) und Nihonshoki (720). Im letzteren ist
Tätowierung über den Augen (als Strafe?) bezeugt. Neben der
Straftätowierung sollen sich auch Angehörige niederer Stände (be, etwa Pferdeknechte,
Schweine- oder Vogelhalter) mit einer Hautzeichnung versehen haben. Die
Straftätowierung ist in der Ära Taika (während der großen
Reformen zwichen 645-649) verschwunden, wenngleich in einem für den
Kriegerstand erlassenen Gesetzeskodex des Hôjô Yasutoki aus dem
Jahre 1232 wiederum angesprochen. Seit der Kamakura-Zeit (die genaue
Periodisierung ist umstritten: Ende 12. bis erstes Drittel 12. Jahrhundert) gab
es allerdings Brandmale als "peinliche" Strafe. 1720 wurde vom achten
Schogun Yoshimune die Straftätowierung neben Prügelstrafe, Ohren- und
Nasenabschneiden wieder institutionalisiert.
Damit hat sich die Assoziation "tätowiert = vorbestraft"
in den Köpfen der braven BürgerInnen eingenistet. Bedacht wurden mit
(hier:) Hautverunzierungen kleine Diebe, Betrüger oder Hehler. Auf
schlimmere Verbrechen waren ja Verbannung oder Enthauptung schnell bei der
Hand. In Edo (dem Tôkyô der Tokugawa-
oder Edo-Zeit, 1603-1867) bestand die entsprechende Hautzeichnung in zwei
durchgehenden ca 9 mm breiten Streifen, die knapp unterhalb des Ellbogens
eingestochen wurden. Derart bestraft wurden nicht nur erwachsene Männer,
es sind auch Fälle von Minderjährigen und Frauen dokumentiert.
Freilich gab es Leute, die versuchten dieses Strafmal zu löschen, meist
über Ansengen der Haut, aber auch solche, die mit diesem
"Kainszeichen" in erpresserischer Manier Drohgebärden machten
oder Leute einschüchterten. Bei Wiederholungstätern wurde zuweilen
ein dritter Streifen eingestochen, insbesondere nach Ausbruch aus den
"Arbeitslagern" der Edo-Zeit, den jinsoku yoseba, in die Vorbestrafte, hinin2, "arbeitslose"
Zuwanderer etc. zwangsrekrutiert wurden. Hinin, denen freizügige
Mobilität nicht gestattet war, die also ihren Wohnbezirk nicht verlassen
durften, wurde nach Versuchen des Untertauchens, mithin der Flucht, ebenfalls
ein oder zwei senkrechte Streifen auf den Oberarm straftätowiert. Im übrigen
war die Strafhautzeichnung regional sehr verschieden, mitunter wurden beide
Oberarme mit Tusche traktiert, manchmal nur auf der Schläfe oder Stirn ein
Schriftzeichen oder anderes Signum eingestochen. Die These, daß bildhafte
Tätowierungen dazu gedient haben mochten, ein Strafmal zu verdecken, wird
von Tamabayashi angefochten. In der Edo-Zeit wurden angeblich beim dekorativen
Tätowieren die Arminnenseiten freigelassen, um damit zu zeigen, nicht mit
Hilfe eines Hautbildes eine Strafzeichnung zu verbergen. Im Jahre 1870 wurde
diese Bestrafungsart denn schließlich abgeschafft. Von der Straf- zur
Kunsttätowierung läßt sich keine direkte Linie konstruieren,
wiewohl auch bei letzterer Leute zur Unterstreichung ihres Imponiergehabes oder
zum Respekt- oder Angst-Einflößen das üble Image der
Hautmalerei bewußt eingesetzt haben mögen. Neben der sträflich aufgezwungenen
Tätowierung kamen in der Edo-Zeit vorerst Tuschezeichen mit Talisman- oder
Schwurcharakter auf. "Liebesmale" (irebokuro) sind schon bei Ihara
Saikaku (1642-1693), dem Chronisten und chronischen Adoranten der
Freudenviertel (yûri, yûkaku) erwähnt. Sie galten als
Unterpfand ewigen Liebesversprechens. Dabei wurde zwischen dem Zeigefinger und
Daumen ein Punkt eingestochen (daher der Name: hokuro ist ein Muttermal, irebokuro demgemäß ein
künstlich applizierter "Schönheitsfleck"). Besonders
verbreitet war dies unter Prostituierten. Es ist literarisch mehrfach
dokumentiert, daß sich diese im Gram Fingerglieder kappten,
Fingernägel zögen, Haare abschnitten oder eben ein irebokuro anbrächten. Letztere
Liebesfanale sind zu einer regelrechten Mode ausgeufert und galten als
graziöser, eleganter als sich andersartige körperliche Pein
zuzufügen. Daneben haben sich Prostituierte und Geishas zuweilen auf ihren
Armen die Namen ihrer bevorzugten Kunden oder Liebhaber eingestochen (und nicht
selten wieder ausgelöscht, übertüncht oder besser
übertuscht - analoge Vertuschungen kommen bis heute vor und zwar nach dem
"Verewigen" des Syndikatsemblems unter Yakuza, die ihre Gang und
damit auch ihr daimon = Gruppensymbol wechseln). Tätowiert haben sich irebokuro Kunde und Gunstgewerblerin
gegenseitig. Von letzterer gestochen zu werden, galt als besonders galant und
als Auszeichnung. Vor allem in sharebon ("Bücher der feinen
Lebensart") aus dem Genre der gesaku, also der zum Spaß
geschriebenen Literatur, sind irebokuro abseits der offiziellen
Geschichtsschreibung immer wieder erwähnt, sie sind regelrecht zu einem
"normalen" Phänomen geworden. In der Bunka/Bunsei-Ära
(1804-1830) mit ihrer ersten Hochblüte einer städtischen Kultur sind irebokuro auch im Theater zu
sehen, ebenso werden sie in den humorvollen Gedichten des Senryû
erwähnt, auch gibt es nagauta (Langgedichte), in deren Text von
diesen Liebesmalen die Rede ist. Eine alternative Form der irebokuro bestand - wie schon
angeführt - darin, den Namen der/des Geliebten am Oberarm nahe der
Innenseite mit Tusche einzuschreiben, wobei der Schriftzug mit dem Zeichen
für inochi (Leben) abgeschlossen wurde (dies hieß auch kishôbori, kishô = Gelübde,
Versprechen, Gelöbnis). Wurde diese Hingabe bereut, wurde die einst
schriftlich auf lebenslänglich geschworene Liebe wieder gelöscht
(meist mit Moxibustion). Diese kishôbori waren bis in die Meiji-Zeit
(1868-1912) in entsprechenden Kreisen recht verbreitet, sind in der
Taishô-Zeit rarer geworden, indes nicht völlig von der
Hautfläche verschwunden. Seit Beginn des 18. Jahrhunderts ist
vereinzelt dokumentiert, daß neben den irebokuro der Liebespaare, auch
Schriftzeichen (etwa die Mantra-ähnliche Anrufung "Namu Amida
Butsu", mit der Amithâba, ein volkstümlicher Buddha des
Mahâyâna um Gnade gebeten wird) auf Händen oder Rücken
eingestochen worden sind. Aus der Ära Meiwa (1764-1772) sind die ersten
Fälle von Trägern von Bildmotiven (etwa einem Drachen) auf der Haut
überliefert. Die Hautmalerei blieb aber noch fragmentarisch, auf einzelne
Einsprengsel beschränkt. Hatten die bisherigen Tätowierungen
eine Art Schwur- oder Amulettcharakter (von Tamabayashi "allegorische
Tätowierung" genannt), so kam im späten 18. Jahrhundert die
bildende Hautkunst auf, d.h. die Tätowierung von Bildern, die selbst den ukiyo'e ("Bilder der
fließend-vergänglichen Welt") nicht nachstünden. Diese
Hautzeichnungsform kann füglich mit Kunsttätowierung betitelt werden.
Schon aus dem Jahre 1811 ist hingegen ein Tätowierverbot bekannt, was auf rasche
Verbreitung von Hautgemälden in kurzer Zeit hinweist. Machen wir in wackerer Japanologen-Manie(r)
einen kurzen Abstecher in die allgemeine Terminologie (im
technisch-handwerklichen Teil werde ich dann die noch drangebliebenen
LeserInnen in einige Fachausdrücke aus dem Tätowierer-Jargon
einweihen): Die wohl populärste Bezeichnung für Tätowierung ist irezumi, was wörtlich das
Einbringen oder Einstechen von Tusche bedeutet, ursprünglich aber die
Straftätowierung designierte. Seit Mitte der Meiji-Zeit kommt der Ausdruck
shisei
in Umlauf, ein anderer älterer Ausdruck lautet(e) bunshin. Das in Edo üblich
gewesene horimono ist die in Kantô von horishi präferierte
Bezeichnung für Tattoos, in Osaka spricht man einfach von sumi (eigentlich: Tusche),
früher hieß der Hautschmuck hier salopp auch horiire oder monmon (letzterer Terminus
überlebt bis heute im Yakuza-Argot). Damit zurück zur
Kunsttätowierung: Der endgültige Hautstichboom wurde ausgelöst
(oder verstärkt) durch eine Sammlung von edlen Räubergeschichten
(Suikoden) aus China, die 1757 erstmals in japanischer Übersetzung erschien,
danach etliche Neubearbeitungen, Nachdichtungen und Adaptionen an japanische
Heroenlegenden erfuhr. Besonderer Beliebtheit erfreute sich eine Ausgabe von
Bakin, illustriert von Hokusai, die 1806 erschien. Vier Helden und Rebellen des
Suikoden, die für Ehre und Gerechtigkeit und das arme Volk kämpften,
waren tätowiert, was eine Nachahmungsmanie bzw. Mode ungeahnten
Ausmaßes nach sich zog (siehe Verbot schon im Jahre 1811, das aber in
Eile in Vergessenheit geriet). Einer der tollkühnen Suikoden-Outlaws,
Shishin, hatte etwa neun Drachen eintätowiert. Da nun der Drache als Tier
gilt, das Wasser herbeibeschwören kann, sollen rund neunzig Prozent der
Feuerwehrmänner (tobi) in Tôkyô an irgendeiner Körperstelle
einen Drachen eingestochen gehabt haben. Es wurden aber auch die einzelnen
Helden und ihre glorreichen Taten mit Tusche auf den Körper gebannt. Das
Suikoden-Fieber wurde erneut erhitzt durch Holzschnitte des Utagawa Kuniyoshi,
der 1827 mit der Illustration von Suikoden-Szenen begann. Dessen Holzschnitte
haben dann wieder als Vorlage für "Hautschnitte" gedient. Bis
heute sind Suikoden-inspirierte Bildmotive verbreitet. Wer ließ sich nun in Edo
tätowieren? In erster Linie Feuerwehrmänner, Sänftenträger
und andere Angehörige von "Nacktberufen". Anfang des 18.
Jahrhunderts wurden die tobi in verschiedenen Gilden organisiert und als
Stadtfeuerlöscher (machi hikeshi) angestellt. Sie waren nicht nur
wichtige Katastrophenverhüter, sondern auch rauhe Kerle, die gerne mit
ihrer Kraft (und ihrem Hautschmuck) protzten und sich periodisch prächtige
Schlägereien lieferten. Es sind Großkeilereien mit hunderten
Beteiligten überliefert. Mitte des 19. Jahrhunderts waren etwa 9.000 tobi als Feuerwehr
tätig, die meisten von ihnen waren tätowiert, was schon eine ganz
beträchtliche Zahl von Körperverzierten bedeutete. Ebenso
ließen sich die gaen (Feuerwehr mit Aufgaben der Feuerwacht) hautverzieren.
Weiters sind Hautassecoires unter Schaustellern, z. B. Kraftprotzen, bekannt.
Auch unter den professionellen Glücksspielern (bakuto) waren Ganzkörpertätowierungen
Anfang des 19. Jahrhunderts de rigueur. Weiters ließen sich Räuber,
Flößer, Fährmänner, Pferdetreiber, Zimmerleute,
Körperarbeiter aller Art, Halb- und Unterwelt den endgültigen
Modeschmuck verpassen, aber auch Intellektuelle, Tamabayashi nennt aus der
Meiji-Zeit einen Politiker, Filmproduzenten, Universitätsprofessor,
Kabuki-Schauspieler und einen Richter aus Nagasaki, der seine prunkvolle
Tätowierung immer durch die halboffene Robe sehen ließ, wonach auch
die hartgesottensten Ganoven Respekt und Reue gezeigt haben sollen. Diese
breite Streuung der Klientel von horishi gilt bis heute und widerspricht dem
verbreiteten Vorurteil, nach dem Tätowierung in ausschließlichen
Zusammenhang mit organisierten Kriminellen (Yakuza) gebracht wird. Unter diesen
hat dies durchaus die Funktion eines Zugehörigkeitssymbols und
Initiationsritus. Ein monmon ist auch Zeichen dafür, sich für immer aus
der Normalgesellschaft absentiert zu haben. Nach älteren polizeilichen
Untersuchungen sind etwa 70% der Yakuza hautdekoriert. Die meisten geben als
Tätowierwunsch an, es sehe gut aus und sei männlich, nur zehn Prozent
setzen auf die bedrohliche Wirkung (Angaben aus dem Polizei-Weißbuch von
1978: Keisatsuchô <Hg.>: Keisatsu hakusho. Keisatsu
katsudô no genkyô. Tôkyô: Okurashô, S. 16). In letzter Zeit
sollen aber junge Yakuza vermehrt vor den hohen Kosten und Schmerzen eines horimono zurückscheuen, ja
nicht wenige Bosse raten ihren Gefolgsleuten kein monmon stechen zu lassen,
dieses werde nur zu einem Hindernis beim Business und vor allem bei Aufgabe des
Yakuza-Berufes und Versuchen des Rückstiegs in die
Mainstream-Gesellschaft. Anfang des 19. Jahrhunderts kommt es zur
Professionalisierung des Tätowiergewerbes. Häufig kamen die
späteren Meister aus den bildenden Künsten und waren Drachenbemaler, ukiyo'e-Künstler,
Druckstockschnitzer (daher auch die Bezeichnung horimono von horu = "schnitzen,
skulpturieren") oder Schmuckschmiede, die anfänglich oft als
Nebenbeschäftigung auch Hautschmuck appliziert haben. Dabei war es nicht
ungewöhnlich - um das Höchste an künstlerischer Fertigkeit unter
die Haut zu bekommen -, daß ein Kunde für die einzelnen
handwerklichen Schritte verschiedene Tätowiermeister, die jeweils für
eine Tätowierphase berühmt waren, aufsuchte: einen für das Bild,
die Umrisse (sujibori), einen für die Abschattierung und Dreidimensionierung
der Grafik (bokashi) und schließlich einen für die Kolorierung. Einer der seinerzeit prominentesten
Hautmaler war Horiuno. Der 1843 geborene Künstler führte ein bewegtes
Leben (auch in dem Sinne, daß er recht unstet war - und nicht zuletzt aus
Angst vor polizeilichem Zugriff häufig seinen Wohnsitz wechselte).
Zeitweise war er Mitglied und Berufstätowierer der bis heute in
Kyôto aktiven und berühmten Yakuza-Gang Aizu Kotetsu-kai.
Später ging er noch einmal in die Schule des Meisters Horiichi, dessen
Ruhm als horishi ihn angezogen hatte. Im Alter von 43 Jahren ist er
schließlich nach Tôkyô gekommen, wo er seinen Ruf als Japans
seinerzeit bester Tätowierer begründete. Selbst ausländische
Adelige zählten zu seinen Kunden. 1924 wurde er Opfer einer
Polizei-Razzia, nachdem ein Kunde kurz nach seiner Hautstechsitzung sein horimono großmäulig in
einem öffentlichen Bad zur Schau gestellt hatte. Alle seine Instrumente wurden konfisziert. Im Alter von 82 Jahren
zog er sich von der Tätowiererei zurück, drei Jahre später
verschied er. Horiuno hatte einen hohen
künstlerischen Anspruch an seine Hautbilder gestellt. Während viele ukiyo'e als Vorlagen
verwendeten, war er der Ansicht, daß sich ein Holzschnitt nicht eins zu
eins auf den Körper übertragen ließe. "Eine
Tätowierung ist eine Skulptur, ist Plastik", pflegte er zu sagen. Er
war auch sehr darum besorgt, ein Gesamtdesign für den ganzen Körper
zu entwerfen und machte damit der fragmentarischen, unzusammenhängenden Hautmalerei
ein Ende. Auch vermied er es, Tusche an empfindlichen Körperstellen
einzustechen. Sein Nachfolger in der Linie, Horiuno II war ebenfalls um die
Hebung der Tätowierung zu einer verfeinerten Kunst bemüht. Das Einkommen der Tätowiermeister war
(und ist) unbeständig. Viele horishi machten früher Hautpflege im
Entgelt von Kost und Logis bei Glücksspielern oder anderen Yakuza. Nicht
selten kam es vor, daß Tätowierungen unvollendet blieben oder im
Laufe des Lebens von mehreren verschiedenen Meistern zu Ende geführt
wurden, weil anfangs der Preis (Finanzen und Schmerzen) zu hoch erschien. Im
Regelfall werden die Tätowierer nach der aufgewendeten Zeit und nicht nach
Größe der Bildfläche entlohnt. Auch zu Horitsune kommen nicht
selten Klienten mit unfertigen Hautmalereien, um deren Vollendung er gebeten
wird. Traditionell sah das Werkzeug für die
händische Arbeit (tebori) folgend aus: An ein Bambus- oder
Sandelholzstäbchen (ersteres ist am üblichsten) oder an Elfenbein-
bzw. Knochensplitter wurden Nadeln befestigt (bevorzugt solche, die feiner als
Nähnadeln waren). Der Stab war etwa 15 cm lang und 6 bis 15 mm breit. Bei
besonders feinen Linien wurden Tätowierstäbchen mit drei Nadeln, bei
breiteren solche mit 5 bis 15 Nadeln eingesetzt, bei größerflächiger
Arbeit (z.B. bokashi) wurden mehrere Stäbe und bis zu 40 Nadeln in
Bürsten- oder dicker Pinselmanier verwendet. Ein Meister besaß im
Regelfall zwischen 30 bis 50 Tätowierstäbe. Allerdings sind die
eingesetzten Instrumente und Färbmaterialien Teil des Berufsgeheimnisses.
Nicht wenige angehende Künstler lassen sich daher von einem bekannten
Meister stechen, um dessen Kunst am eigenen Leibe, hautnah sozusagen, zu
erleben und die Geheimnisse durch Anschauung zu entlarven (nusumimiru). Als Tusche hat sich
die Verwendung der als am qualitätsbesten geltenden Nara-sumi eingebürgert. In
Nara gibt es bis heute viele Tuschehersteller. Jeder horishi habe seine Marke, die er
aber nicht verrate, erzählt mir Horitsune, auch über den Preis, der
beträchtlich variieren kann, will er nichts aussagen. Anhand einiger weiterer Fachausdrücke,
möchte ich den handwerklich-technischen Aspekt des Tätowierens
japanischer Art beleuchten. Vorerst malt der horishi nach
"Maßnehmen" der Körperproportionen eine Vorlage und Rohzeichnung
(shita'e) mit wasserlöslicher Tinte. Diese Art Pauspapier wird auf die zu
behandelnde Hautfläche (vor allem bei Arbeiten auf dem Rücken)
aufgelegt und mit einem kräftig gewässerten Pinsel bestrichen. Damit
zeichnen sich die Umrißlinien (sujibori) ab, die dann mit dunkler Tusche
eingestochen werden. Die sujibori werden sodann mit abschattierender
Farbe ausgefüllt (bokashi). Die Einstechtiefe ist bei der grafischen Arbeit tiefer
als bei der Kolorierung. Sehr feine Linien haarscharf stechen heißt
entsprechend kebori, das Einbringen von Motiven an schlecht sichtbaren Stellen
(z.B. unter der Achsel) oder das vexierbildartige Verstecken von Schriftzeichen
in Bildern (etwa einer Blume) nennt sich kakushibori. Die (bislang) im Westen
bevorzugten Tätowierungen, die eher grafischer Natur sind, also innerhalb
der Umsrißskizzen nicht vollständig ausgemalt werden (also ohnebokashi bleiben), werden als nukibori bezeichnet. Keshôbori nennt sich die
ausgiebige Verzierung der zentralen Tätowierung mit floralen Mustern,
praktisch eine Garnierung mit Blumenmotiven (ohne aber einen klar begrenzenden
Rahmen = gaku zu setzen). Wird einem eingravierten Heroen wiederum eine
Tätowierung eingezeichnet, heißt das nijûbori. Eine Nachtönung der Farben, wenn diese
nach etwa einer Dekade verblassen, wird mit dem Wort sarau markiert (Horiuno soll
seine eigene Tätowierung dreimal nachfärben haben lassen, was eher
ungewöhnlich ist). Horitsune meint aber, daß sarau heute eher unüblich
sei, freilich hänge die Verbleichungsrate vom Können des horishi und der Qualität
der verwendeten Materialien ab. Durch das Chiaroscuro, die für die
japanische Hautmalerei charakteristische Abschattierung, gewinnt die
Tätowierung an Dreidimensionalität. Dabei muß stellenweise die
Farbe verdünnt, nahezu pastellartig werden, was durch das Versetzen der
Tusche mit Wasser erreicht wird, die Beherrschung dieser Technik (ususumibokashi) gilt als Ausweis der
echten Meisterschaft. Horitsune hält jeweils drei verschiedene
Tuschefarbintensitäten parat. Der Übergang von der tätowierten
in die nicht tätowierte Hautzone kann auf verschiedene Weise geschehen.
Man unterscheidet vier Arten: bukkiri ist der scharfe Abschnitt durch
eine Linie, botanmikiri bezeichnet wellenförmige Linien in Art einer
Aneinanderreihung von Blütenblättern, matsubamikiri sind feine parallele
Linien im Übergangsfeld, die wie Kiefernnadeln aussehen und akebonomikiri ist das sachte
Ausklingen der Färbung, die einen unscharfen Übergang in die
unbemalte Haut mit sich bringt. Botanmikiri gilt als im Trend liegend, an den
Armen sind hingegen scharfe Begrenzungen üblich. Heute bleibt in der Regel
die Mitte der Brust und des Bauches untätowiert, so als würde man
sich ein Cape umwerfen, das vorne nicht schließt. Dies wird als munawari bezeichnet (auch jinbeiwari oder dobuwari) Im Morgenmantel bleibt
die Tatsache des Tätowiertseins also verborgen. In der Meiji-Zeit war die
vollständige pulloverartige Einkleidung des Oberkörpers mit dem
Hautbild üblich (eguri oder tsubushi im Fachjargon). In der Edo-Zeit
wurde anscheinend die Tätowierung der Arminnenseiten vermieden, um damit
zu zeigen, daß keine Straftätowierung verdeckt würde (dies ist
indessen ein angesichts der regionalen Unterschiede bei den Strafmalen wenig
schlüssiges Postulat). Heute wird zuweilen auch die besonders
schmerzempfängliche Innenseite ausgemalt. Die Arme können bis zu den
Handgelenken dekoriert werden oder nur bis zu den Oberarmen, sodaß das
Tragen eines T-Shirts möglich ist, ohne gleich zu verraten, daß man
hautverziert ist. Eine vollständige Bedeckung des Körpers mit
Tätowierungen heißt zenshinbori (auch sôshinbori, tokkuribori, früher gaenbori), ist heute aber eher
selten geworden. Als Abschluß und Krönung einer
großflächigen Tätowierung sticht der Meister seinen
Künstlernamen ein. Bei unvollendeten oder von mehreren
Tätowierkünstlern erstellten Hautmalereien fehlt dieses Signum
manchmal. In der Regel gibt ein Meister, der nicht den Gesamtentwurf und die
Umrißlinien (sujibori) gemacht hat, keine Signatur. Zum Schmerz: als die Tätowiertechnik
noch nicht so fortgeschritten war, hat der Kunde oft zum auf die Zähne
Beißen ein Handtuch verwendet. Die Haut schwillt an wie nach einem
Insektenstich. Es tut weh. Fieberausbrüche sind bekundet. In der Nähe
der Gelenke, am Steißbein und an den Rippen und Lenden sind die
schmerzempfindlichsten Stellen. Die applizierte "Schürfwunde"
verkrustet und braucht etwa eine Woche bis zehn Tage zur Verheilung. Der Schorf
juckt, soll aber um die Farbqualität nicht zu beeinträchtigen, nicht
abgekratzt werden. Besondere Behandlung braucht die tätowierte Stelle
nicht, heißes Baden und das Aufstreichen einer Heilsalbe wird von
Horitsune empfohlen. Bei Ganzkörperdesigns werden etwa jede Woche
Sitzungen abgehalten, sodaß diese bei regelmäßigem
Hautbildnerbesuch in gut einem Jahr vollendet werden können (das kann etliche
Millionen Yen kosten). Eine Rückentätowierung verlangt je nach
Detailfreudigkeit im Motiv zwischen zwanzig und dreißig
"Hautoperationen" von mehreren Stunden Länge. In Tanizaki's Roman "Die
Tätowierung" (Shisei) gibt es ein paar faktische Ungenauigkeiten.
Kündigt der Tätowiermeister seiner Kundin dort Schmerzen an, die sie
hochschnellen lassen werde, so ist dies ein Ausspruch, den kein hosirshi tätigen würde.
Ein echter Meister würde es nie zu seinen Fertigkeiten rechnen,
große Pein zu erzeugen. Im Gegenteil, handwerklich geschickte Meister
versuchen, den Schmerz möglichst gering zu halten.Im übrigen ist die
von Tanizaki beschriebene Riesenspinne auf dem Rücken der Kundin nicht in
der angegebenen Zeit von Mittag bis zum nächsten Morgengrauen zu schaffen.
Kein horishi kann derart flott arbeiten. Eine bis heute kursierende und mir im
Tagelöhnerviertel Kamagasaki (Osaka) zu Ohren gekommene Geschichte stammt
auch aus einem Roman, somit dem Reich der Fiktion. Danach soll es eine Form der
Tätowierung geben, die nur nach dem Bad oder Alkoholtrinken durch die
vermehrte Blutzufuhr auf der Haut auftauche. Diese sonst unsichtbare
Hautverzierung beschreibt auch Tamabayashi als oshiroibori (dazu werde ein
weißes puderartiges Färbepulver eingestochen). Horitsune hält
dies aber für tätowiertechnisch unmöglich und für ein
Märchen. Ein Ganzkörpertätowierter ist
kälteempfindlich, weil das Porensystem der Haut in Mitleideschaft gezogen
ist. Im Sommer hingegen schwitzt er weniger und wird angeblich nicht von
Moskitos gestochen. Die meisten lassen sich in jungen Jahren stechen. Abmagern
oder dicker werden kann Einfluß auf das gestochene Bild haben, ebenso das
Schlafferwerden der Haut mit zunehmendem Alter. Aus der Meiji-Zeit wird als Kuriosum
beschrieben, daß es Tätowierungen gab, die erst in der
Reih-und-Glied-Stellung der Tätowierten ein Gesamtbild ergaben, so bei
drei Männern, deren Rücken - wenn nebeneinandergereiht - einen Riesendrachen
"zusammenstellten", von einem Bild, das erst mit sechs
"Gezeichneten" vollständig war, ist gar die Rede. Auch wurden
Klubs von Tätowierten gegründet, so etwa die Kurikaramonmonren, als
Tattoo-Motive der Mitglieder werden u.a. genannt: neben etlichen
Suikoden-Helden, Hannya (eine weibliche Dämonenfratze), Fudô Myôô
(sanskrit: Acala, ein wilder Hüter der Lehre und Proselytenmacher), drei
bis neun Drachen etc. In der Jagd nach Bizarrem wurden auch abgeschlagene
Köpfe, Riesenschlangen und andere Groteskerien eingestochen. Zu den Bildmotiven läßt sich
allgemein sagen: Geschmäcker sind verschieden. Suikoden-Rebellen, ein
Fudô Myôô, eine Kannon (sanskrit: Avalokiteshwara, einer der
bedeutendsten Bodhisattvas des Mahâyâna, der in China und Japan als
weiblich gilt und Barmherzigkeit verspricht), der Bodhisattva Dainichi Nyorai
(sanskrit: Mahâvairocana), Sturm- oder Donnergott sind bis heute
populär. Begehrte Motive aus Fauna und Flora sind etwa: bei Tieren Hund,
Katze, Krebs, Drache, Karpfen, Schlange, Spinne, Löwe, Tiger,
Schmetterling, Fledermaus, Adler etc., bei Blumen Päonie,
Kirschblüten, Winde, Ahornblätter, Zierapfelbaumblüte (eine
Rosenart, malus halliana), Pflaumenblüten etc. Auch Gruselmotive wie Gespenster,
abgeschlagene Köpfe oder eine Hannya geistern bis heute auf Häuten
herum. Traditionelle Motive der
"allegorischen Tätowierung" sind Schriftzüge (z.B. Namida Amida Butsu), eine Sakeschale oder
Blumen als Gelöbnis mit dem Trinken aufzuhören, religiöse Motive,
Berufsabzeichen, etwa ein Fuchs oder Spinnen bei Prostituierten (viele Kunden
sollen ins Netz gehen), Fischhändler lassen sich Fische stechen, Geishas
eine Shamisen oder ein Plektron, Reiter ein Pferd, Hundeliebhaber einen Hund,
Seeleute einen Anker, Glücksspieler einen Würfel, Feuerwehrleute ihr
Gruppenabzeichen (matoi), Prostituierte das Familienwappen eines bevorzugten Kunden
oder Liebhabers etc. Mir wurde gar von einem buddhistischen Priester
erzählt, dessen Rücken eine Bishamonten (Vaisravana, eine
hinduistische Schutzgottheit) zierte. Als kosmetisches Mittel dient die
Tätowierung auch dazu, dünne Augenbrauen nachzudunkeln oder
Glatzenansätze zu verdecken. Tätowierverbote wurde immer wieder
ausgesprochen, offiziell blieb das Hautmarkieren in Japan bis nach dem Zweiten
Weltkrieg unter Strafdrohung gestellt. Zum Interdikt aus dem Jahre 1811 gibt es
indes über tatsächliche Strafverfolgung und Verurteilungen keine
Aufzeichnungen, dasselbe gilt für eine wieder erlassene Prohibition in der
Ära Tempo (1830-1844). In der Meiji-Zeit wurde die Tätowierung erneut
verboten, dieses Verbot scheint auch im 1880 erlassenen Strafgesetz unter Artikel
428 auf, im Jahre 1908 kam es zu einer weiteren Strafverschärfung.
Allerdings gab es keine echte Strafverfolgung, die innerhalb von sechs Monaten
nach dem Stechen hätte erfolgen sollen. Tätowierungen erwerben hat
unter Prohibitionsbedingungen den Beigeschmack von Insubordination und
symbolischer Auflehnung gegen Behörden und Staatsgewalt. Das
meiji-zeitliche Verbot (wiewohl ineffektiv wie alle Prohibitonen von Dingen,
die menschliches Verlangen oder Faszinosa betreffen) sollte dazu dienen, dem
Ausland nicht das Bild zu vermitteln, "barbarische Sitten" zu pflegen
(die Besorgnis, "was wohl das Ausland dazu sagen könnte", ist
eine der subtileren, in Japan aber immer wieder ins Spiel gebrachten Formen von
Nationalismus)* . Trotz laxer
Strafverfolgung wurden bei Razzien hingegen nicht wenige Tätowiervorlagen
beschlagnahmt und zerstört, was als Schändung von Kulturgut durchaus
auch als "barbarisch" gelten darf* . Kurioserweise waren es aber gerade die Ausländer,
denen gegenüber man sich so gesittet und zivilisiert präsentieren
wollte, die höchstes Interesse an japanischen horimono zeigten. Hohe
Aristrokraten aus England, Wales oder Rußland zählten ebenso zur
Kundschaft von in Yokohama "lizensiert" operierenden horishi wie Seeleute, die seit
dem 19. Jahrhundert in Meerhäfen aller Welt in eigenen Salons ganze
Bildergalerien "unter die Haut gehen" lassen konnten. Die
"erste" Kunde über die Wiederentdeckung des Tätowierbrauchs
brachte James Cook 1771 von seiner ersten großen Expedition nach Europa.
Er hatte diese Kunst in Tahiti gesehen und überlieferte auch das
samoanische Wort "ta tatau", ein Onomatopoetikon, das eigentlich
"richtig schlagen" bedeutet und mit dem Ton beim Hautbearbeiten
lautmalt. Wollte man eine Aufzählung der geographischen Striche versuchen,
in denen das Tatauieren Brauch und Sitte war, könnte man alle Kontinente
anführen und zahllose Länder. Einige Beispiele aus Tamabayashi's "Weltgeschichte
der Tätowierung", dem letzten Kapitel seines Buches, seien genannt.
Unter den Südseeinseln führt er etwa an: Mikronesien, Polynesien,
Melanesien und die Marshall-Inseln, auf denen Hautmalerei jeweils als
Dekoration mit religiösem Hintergrund und Standesabzeichen dien(t)en.
Weitere Hautdekororte: Hawaii, Samoa, Tonga, Neuseeland (Maoris, die
Tätowierungen auch zum Erschrecken ihrer Gegner im Kriege eingesetzt haben
sollen), Neu Guinea (Papuas), Fidschi-Inseln, Sarawak, Malaysien, Birma,
arabische Länder, Algerien, Kongo, beide Amerika (native americans, z.B. Chipewyan, Omaha
in Nordamerika), Sibirien, Amur, China. In Europa ist bekannt, daß sich
im antiken Rom Soldaten tätowieren ließen, was sich allerdings mit
der Erhebung des Christentums zur Staatsreligion im Jahre 325 n. Chr.
aufhörte, da es hieß, dies sei eine Verunstaltung des "nach dem
Bilde Gottes erschaffenen Menschen". Eine analoge tabuisierende Sentenz -
ohne transzendenten Bezug allerdings - gibt es übrigens in Japan aus dem
neo-konfuzianistischen Bereich, nach der es heißt, man möge seinen
von den Eltern geschenkt erhaltenen Körper nicht verschandeln. Sie ist in
Tamabayashi schon in der Einleitung erwähnt und wird bis heute von
JapanerInnen als Einwand gegen das Hautverzieren vorgebracht. Das ornamentale Tätowieren geriet in
Europa im Mittelalter ins Vergessen und wurde erst wieder von den Matrosen im
19. Jahrhundert aufgenommen, die sich einen Anker oder Stern (nach dem alten
Hymnus "Ave maris stella", "sei gegrüßt, du Stern des
Meeres"), aber auch Namensinitialen (zur Identifizierung nach eventuellem
Ertrinkungstod) auf Arme oder Handrücken einstechen ließen. So wurde
von den Japanern auch dokumentiert, daß die meisten der 1854 in Tsuruga
gelandeten amerikanischen Seeleute Hautverzierungen trugen. Schon lange war das
Tatauieren als (Un)Sitte von "Fremdvölkern" bekannt. Bis zum
Beginn dieses Jahrhunderts pflegten die Bewohner der von Japan gewaltsam
einverleibten Peripherie, Hautschmuck zu tragen. Dekoratives Hautstechen war
Brauch unter den Utari ("Ainu") im Norden und auf den
Ryûkyû-Inseln im Süden, allerdings wurden nur die Frauen
verziert. Bei der Hautmalerei auf Okinawa dürfte diese aus Taiwan oder von
Südseeinseln gekommen sein. Tätowiert wurde der Handrücken mit
Zeichen, die die soziale Stellung markierten oder besonderes Geschick beim
Weben oder Nähen auswiesen. Nach der Heirat wurden beide Handrücken
tätowiert. Bei den Utari wurden um den Mund und auf den Handrücken
und Armen ornamentale Hautverzierungen eingebracht. Tätowiert wurde mit
einem Taschenmesser, was recht schmerzhaft sein dürfte. Als Motiv galt
Schutz vor bösen Geistern und Dämonen. Eine nicht tätowierte
Frau hatte schlechte bis keine Heiratsaussichten. Auch das Alter des Tätowierbrauchs
kann wohl nur mit "seit Menschengedenken" markiert werden. Ursprünglich
galten bildliche Darstellungen aus dem alten Ägypten als die ältesten
Hinweise - bis im österreichisch-italienischen Grenzgebiet am 19.
September 1991 unterhalb des Hauslabjochs der "Simulaun-Mann" (vulgo
"Ötzi") aus dem Gletscher regelrecht auftauchte und auftaute.
Dieser kaltgetrocknete Leichnam eines jungsteinzeilichen Jägers (gelebt
hatte er schätzungsweise vor 4.900-5.500 Jahren) trug Tätowierungen,
und zwar ein kleines Kreuz hinter einem seiner Knie und eine Serie von ca. 15
cm langen Linien über den Nieren. Tamabayashi nennt als Altersbeleg gar eine
Bibelstelle, die auf ein Verbot von höchster Instanz verweist, siehe
Leviticus 19,28: "Macht euch wegen eines Toten keine Einschnitte an eurem
Leib und ätzt euch keine Zeichen ein." Ob sich die alten Hebräer
Hautzeichen anbrachten, ist damit nicht ganz klar, es kann sich - wie bei vielen
anderen alttestamentlichen Textstellen - auch um eine Abgrenzung gegen andere
Völkerschaften handeln, die diesen Brauch wie auch Polytheismus,
Baal-Kult, Magie etc. hochgehalten haben mochten. Eine Sittengeschichte des
Tätowierens könnte allenfalls Aufklärung darüber bieten, daß
historisch und gegenwärtig nicht nur Verbrecher, Halunken oder Outsider
hautbemalt sind und waren. Das Anbringen von bleibenden Dekorationen
unter die Haut auf mechanische Weise gehört mithin zu den archaischsten
und zugleich modernsten Formen von Selbstausdruck. In Japan hat die Tätowierung
weltweit ihren handwerklichen Höchststand erreicht und erlebt in
jüngster Zeit eine unvermutete - obgleich "kleinflächige" -
Renaissance. Neben body piercing, wobei Schmuck per Perforation an
so abenteuerlichen Körperstellen wie Nasenflügeln, Zunge,
Bauchnabeln, Brustwarzen, ja sogar Genitalien appliziert wird, erfreut sich
auch das traditionelle Hautstechen steigender Popularität. (Dernier cri
sind - wie mir ein junger Tätowierer, der öfters bei Horitsune im
Lokal sitzt, erzählt: scarring, das ist das künstliche
Erzeugen von Narben bzw. branding, das Einsengen von Symbolen auf die
Haut wie bei einem Rindvieh). Die Kunst des Tätowierens tritt aus ihrem Schattendasein
und blüht auf den Körpern junger JapanerInnen, die sich damit ein
sichtbares Fanal der Selbstexpression und "Distinktion" antun.
Deutliches Indiz für diesen Trend ist die Tatsache, daß ein
Tätowiermeister, Takahashi Hiroaki, aus Kawaguchi, der diesen Sommer in
Roppongi/Tôkyô eine Tätowierschule eröffnete, auf Anhieb
von etwa 380 Frauen und Männern Aufnahmeansuchen für die 30
vorhandenen "Lehrstellen" erhielt. Daneben betreibt er einen
Tattoo-Salon, in dem täglich sechs bis sieben junge Leute als Kunden mit
"westlichen" Tattoos dekoriert werden. Angeblich soll die Zahl der
"Patienten", die sich von Schönheitschirurgen die teuer
erworbene Hautverzierung wieder entfernen lassen, ebenfalls sprunghaft
angestiegen sein. Offenkundig war die Reaktion der sozialen Umwelt auf den
neuen Schmuck nicht so enthusiastisch und ungebrochen wie die Freude beim
Erwerb dieses Hautaccessoires# . Dies illustriert deutlich die nach wie vor ambivalente
Haltung, die dieser Form von "body art" entgegengebracht wird. Die
Motivation, sich eine Hautverzierung stechen zu lassen, ist seit altersher so
weitgestreut wie die Klientel der Tätowierer: Schmuckverlangen, Mode,
Individualitätsstreben, Imponiergehabe, Gruppenzugehörigkeit,
erotisch-sinnlicher Reizwert bis hin zu magischem Symbolaberglauben. In Japan
meist und fälschlich mit den organisierten Gangstern, den Yakuza,
assoziiert, könnte der rezente Boom einem neutraleren Verhältnis zu
dieser Form des Körperschmucks zuträglich sein. Es waren nie nur die
Yakuza, die sich stechen ließen, so wenig wie Tätowierung unbedingt
Ausdruck sozialer (Selbst)Marginalisierung sein muß. Kehren wir
wieder ins Lokal der Frau von Horitsune zurück und ein. Ich trinke mit dem
Meister ein Bier und lasse mir Episoden, Lebensgeschichte und Geschichten
erzählen3 .
Er ist sanfter, warmherziger Mann Mitte vierzig, nur die zwei fehlenden
Fingerkuppen und die eintätowierten Schriftzüge seines Künstlernamens
auf den Handrücken weisen ihn als außerhalb der japanischen
Normalgesellschaft stehend aus. Aber er ist kein Yakuza, wie er nachhaltig
betont, auch hat er hartnäckig Angebote von Yakuza-Syndikaten
ausgeschlagen, die ihn wiederholt anwarben, damit er sich als "ihr" horishi
sein Brot erwerbe. Er sieht sich (bescheidenerweise) als
"Handwerker", der sich von der Ästhetik des Hautstichs und nicht
vom zweifelhaften Unterweltsglamour angezogen fühlte. Viele horishi
sind Yakuza, die die Mitglieder ihrer Organisation tätowieren, damit auch
häufig auf tabi = Reisen sind. "Willst du dich
tätowieren lassen, geh' nach Kuromon", heißt ein alter Spruch
(der aber laut Horitsune II an Bekanntheit verliert). Kuromon galt als traditionsreicher
Ort niedergelassener Hautverzierungskünstler. Horitsune ist der letzte,
der hier seine Arbeitsstätte hat, ansässig und öffentlich
zugänglich ist. Ob er sich in der alten "Kuromon-Tradition"
sehe, frage ich ihn. Er lächelt vielsagend und verschmitzt und sagt
"nein". Auch mit dem rigiden Meister-Schüler-System hat er
gebrochen. Nicht weil es schlecht sei, fügt er gleich hinzu, es habe seine
Vorteile, aber er hätte aus persönlich-charakterlichen Gründen
Schwierigkeiten damit. Seine Lehrzeit war extem hart. Sie dauerte Jahre.
Vorerst wollte ihn der Meister gar nicht als Schüler annehmen. So suchte
er ihn als Kunde auf und ließ sich über beide Schultern
hautdekorieren. Der Meister war schließlich von seiner
"Ernsthaftigkeit" überzeugt und gab nach (erst nach
Hingabebeweisen den Schülerstatus verliehen zu erhalten, gehört ja
bei asiatischen Künsten oder hermetischen Lehren schon nahezu
"rituell" zum "Weg", den man zu beschreiten beschlossen
hat). Horitsune gibt an, schon als Kind den bildenden Künsten besonders
verbunden gewesen zu sein. Nach einem Jahr in Tôkyô (die Metropole
war ihm zu lebensfeindlich) auf einem Kunstcollege, schlug er sich mit diversen
Tätigkeiten durch. Als Lastwagenfahrer sah er mitten im Sommer auf dem
Rücken eines Arbeiters die vom Schweiß schillernden Farben eines
Tattoos. Er war restlos fasziniert. Daß man derart schöne Bilder auf
die Haut zaubern konnte, hat ihn nicht mehr losgelassen. Er besorgte sich in
Antiquariaten alle Bücher über Tätowierungen, die er auftreiben
konnte und begann gar in seinen Fuß nach den gelesenen Anleitungen Tusche
zu applizieren. Auf Anraten seiner Frau, die das, ich bin versucht zu sagen,
nicht mitansehen konnte, ging er in die Lehre (deshi'iri)
seines Meisters. Er lernte ungewöhnlich rasch und machte sich schon
früh selbständig. Nicht ohne Hindernisse. Nach persönlichen
Differenzen mit dem Meister sah Horitsune als einzigen Ausweg aus der Klemme,
nach Yakuza-Sitte ein Fingerglied zu opfern. Nur auf diese Weise glaubte er
sich - in dieser von der Normalgesellschaft ausgeschlossenen "Welt"
-, adäquat entschuldigen und zugleich seiner Dankbarkeit Ausdruck
verleihen zu können. In den ersten
Jahre seiner "Freiberuflichkeit" ging Horitsune mit Fotos seiner
Arbeiten zu Yakuza-Büros, um Kunden zu gewinnen. Als besonderen - und
jedem nachgesagterweise geschäftstüchtigen Osaka-Kaufmann
würdigen - Werbegag ließ er sich folgendes einfallen: Er bemalte
seinen etwa siebenjährigen Sohn Aki kunstvollst, ließ ihn dann Pose
nehmen mit einem Lampion, der seinen Künstlernamen trug, lichtete ihn ab
und verschickte dieses Foto als Postkarte an diverse Yakuza-Büros. Dort
wurde eifrig gerätselt, ob das Kind nun wirklich tätowiert sei und ob
man Mannes genug sei, diesem in Sachen Hautdekor in nichts nachzustehen. Diese
Aktion hatte Horitsune's Bekanntheitsgrad nachhaltig erhöht. Heute kommen
die Kunden zu ihm, meist über Mundpropaganda. Das
Kundenprofil hat sich geändert. Waren bis vor sieben, acht Jahren etwa 90%
der Hautbildinteressenten einschlägig, d.h. Yakuza, so teilt sich heute
die Klientel zur einen Hälfte auf in Yakuza, zur anderen in Rock-Musiker, action-liebende
junge Leute wie Surf- oder Snowborder, Transvestiten, aber auch (und das hat
Tradition) Handwerker, Köche und vereinzelt gutbürgerlichere
Angestellte4 .
Horitsune hat keine Schüler, denen er den Künstlernamen seiner Linie
vererben würde, ist aber jederzeit bereit, seine Kenntnisse mit jungen
"Stechern" zu teilen, die teilweise in Amerika Tattoos erworben haben
und begannen, Leute aus ihrem Bekannten- und Freundeskreis (und zum Training
sich selbst) zu bearbeiten. Einer dieser, der seit einiger Zeit vom Hautstechen
lebt und von Horitsune sowohl geschmückt wie eingeweiht worden ist, meint,
daß viele "ganz normale" Leute als Kunden zu ihm kämen. Er
sticht ausschließlich kleinflächige Bilder, vornehmlich auf Oberarme
und Schultern. Obwohl er auch "realistische" Bildmotive beherrscht,
wünschen viele Kunden abstrahierte Grafiken oder dekorative Linien und schlichte,
schwarze Ornamente (sogenannte "Tribals"), wie sie momentan in den
USA en vogue sind. Hautschmuck wird vermehrt als solcher gesehen und ein
Segment der Jugendlichen hat die Vorurteilsbarriere gegen Tattoos durchbrochen.
Es sind, ergänzt Horitsune, aber vornehmlich solche, die keine Karrieren
im Auge haben, keine Eliteuniversitätsstudenten, sondern eher Drifter, die
sich am temporären Arbeitsmarkt durchschlagen und sonst ihren Hobbys
nachgehen. In Tôkyô sei man horimono
gegenüber etwas aufgeschlossener und offener als in Osaka, meint der junge
"Stecher", Vorurteile korrelieren aber signifikant mit dem Alter und
werden mit diesem unüberwindlicher. Daß
Hautschmuck in der japanischen Gesellschaft immer noch als sichtbarer Ausweis
von Aussteigertum gesehen, bzw. Grund zur "Verstoßung" wird,
illustriert die Geschichte eines Angestellten einer bedeutenden Handelsfirma,
der seinem Vorgesetzten nach der obligaten Gesundheitsuntersuchung, die er
nicht vom firmen-internen Arzt vornehmen ließ, gestand, eine Tätowierung
zu tragen. Er wurde gefeuert. Ähnlich gelagert der Fall des bislang
ältesten Kunden von Horitsune, der kurz vor seiner Pensionierung zu ihm
kam und sich in einer zwei Jahre dauernden Prozedur den ganzen Körper
verzieren ließ, sodaß mit seinem 60. Geburtstag das Werk vollendet
war. Er habe seit seiner Jugend unbedingt eine Tätowierung gewünscht,
konnte sich eine solche aber wegen seiner Position als höherer
Firmenangestellter "nicht leisten". Über Lebensgeschichten,
Schicksale, kuriose Begegnungen hat Horitsune viel zu erzählen. Über
den Mann etwa, der im Dezember zu ihm kam und aufgeregt insistierte, noch vor
Ablauf des Jahres unbedingt ein großflächiges sumi
erwerben zu müssen. Sein "Stammwahrsager" habe ihm das
nahegelegt. Damals noch in einem bürgerlichen Beruf, ist er später
ein bekannter Yakuza geworden. Oder da war die junge, hübsche Frau, die
sich den ganzen Rücken stechen ließ: ihr Mann - ein Yakuza - war
für längere Zeit im Gefängnis, sie wollte ihm damit ihre Treue
buchstäblich "zeigen". Bei jedem Knastbesuch konnte sie die
Fortschritte der Arbeit demonstrieren. Das Bildmotiv war identisch mit dem ihres
Gatten, der nach Abschluß des Werkes meinte: "Ihre Tätowierung
ist ja schöner als die meinige!"
Frauen
kämen oft mit einer starken Motivation und hoher Schmerztoleranz zu ihm,
meint Horitsune am Beispiel einer Nachtclubbesitzerin, die extra aus
Kyûshu angereist war, um innerhalb von vier Tagen und Nächten den
gesamten Rücken an einem Stück dekorieren zu lassen. Sie gab an,
daß ihr Mann gestorben sei. Vor seinem Ableben habe er immer über
heftige Rückenschmerzen geklagt. Sie wollte ihm mit ihrer freiwiligen
Tortur quasi nachträglich die Pein erleichtern (etwas, das nur im Kontext
einer Ahnen- und Jenseitsvorstellung, die auf einer
"mystisch-spiritistischen" Verbindung zwischen Diesseits und
Transzendenz beruht, verständlich wird). Etwas empfindlicher war der
verwöhnte Sprößling aus reichem Yakuza-Haus. In die beruflichen
Fußstapfen seines Vaters wollte er zwar nicht treten, wohl aber eines
dieser hübschen Hautdesigns haben. Jedem Abraten unzugänglich, wurde
er schließlich mit pompöser Importkarosse bis zu Horitsune's Studio
kutschiert, wo dann Papa, Mama, Söhnchen und Tätowiermeister
gemeinsam ein prachtvolles Motiv auswählten. Fortan wurde er
wöchentlich zur "Stechstunde" von Horitsune chauffiert.
Öfters wurde dem Jüngling aber schlecht, oder er bekam plötzlich
"Fieber" (wie ein Schulschwänzer) und nur durch kräftigen
Zuspruch der ganzen Familie hielt er die Prozedur durch. "Normalerweise
schicke ich die Leute woanders hin, wenn sie zu wehleidig sind", meint
Horitsune, der damals mit Geschenken eingedeckt wurde. Auf die Frage, ob er
irgendwas wünsche, gab er einmal "Eier" an, worauf kurz
später ein derart riesiges Paket mit Hühnereiern ankam, daß
diese nicht einmal im Lokal seiner Frau aufbrauchsfristgemäß
hätten verwerten werden können. "Damals hat die ganze
Nachbarschaft von meinem Kunden profitiert", erzählt Horitsune
schmunzelnd. Ausgefallene
Kundenwünsche wie Genitalienschmuck (bei Yakuza nicht unüblich) lehne
er ab. "So jemand halte ich die Nadel hin und sage: 'Bitte selber
machen.'" Im übrigen ist Horitsune jedem Motivwunsch gegenüber
aufgeschlossen. Hier hat sich ja auch mit der sozialen "Streuung" der
Tätowierwilligen einiges geändert: junge Leute wünschen oft in
Japan so genannte one-point-Bilder, wie sie in westlichen
Tattoo-Salons beliebt sind. Horitsune hat sich auch diese Art von Motivik
angeeignet. Er meint, daß er vielleicht der einzige Hautbildner sei, der
sowohl traditionell japanische Hautbilder als auch Tötenköpfe,
Satansfratzen und dergleichen bei Jugendlichen beliebten Motive mehr, in seinem
Repertoire habe** .
Es gäbe ja junge japanische Hautstecher, die ihr Handwerk in Amerika oder
Europa erlernt haben - somit aber keine Tätowierungen japanischer Art
beherrschten. Horitsune arbeitet übrigens mit elektrischen Maschinen und
nicht wie früher üblich mit Hand (tebori).
Der große Vorteil liegt in der Zeitersparnis. Die hohe,
regelmäßige Einstichfrequenz erlaubt sehr präzise Arbeit. Heute
verwenden viele horishi "Tätowierpistolen",
manchmal nur für die Umrißlininen, die feinere Arbeit wird dann von
Hand gemacht, oft "operieren" horishi aber ausschließlich maschinell.
Horitsune kam zu einer Zeit zu seinem Meister, als dieser gerade auf
"Elektrik" umstellte, worauf er sein "Handwerk" unter Einsatz
technischer Hilfsmittel erlernte. Der Meister arbeitet hygienisch mit Gummihandschuhen.
Die Geräte werden vor und nach jedem Kunden sterilisiert. Eine
größere Tätowierung wird zuerst mit den Umrissen begonnen, dann
werden die Schattierungen eingraviert und schließlich folgt die
Kolorierung, wobei jede Farbe einzeln gestochen wird. Eine
Ganzkörperhautverkleidung dauere bei wöchtentlich einmaligem Besuch
ungefähr ein Jahr. "Manchmal aber auch sechs Jahre, wie bei einem
meiner Yakuza-Klienten, der ständig im Gefängnis ein und aus
ging", fügt Horitsune humorig hinzu. Seit das neue Yakuza-Gesetz in
Kraft trat, hat er Kundschaft aus diesen Kreisen verloren, weil viele Yakuza
auf dieses allzu auffällige "Berufsinsignium" verzichten, um im
Geschäftsleben besser eine seriöse Fassade bewahren zu können. Zudem
leiden viele "kleine" Yakuza - nicht zuletzt wegen der schlechten
Konjunktur - unter chronischem Geldmangel und können sich die kostspielige
"Hautpflege" nicht mehr leisten - damit zeichnet sich aber auch ein
leises "Aussterben" der hohen Kunst der japanischen
Ganzkörpertätowierung ab. Am
Wochenende allerdings ist Horitsune ungewöhnlich vielbeschäftigt.
"Da kommen Ex-Gangster zu mir, die aus dem Geschäft ausgestiegen
sind, jetzt unter der Woche einem 'normalen' Beruf nachgehen, um sich samstags
oder sonntags die in ihrer Yakuza-Zeit begonnene, unvollendete Tätowierung
fertigstellen zu lassen." An Wochentagen
hat Horitsune nun mehr Freizeit. Seit etlichen Jahren malt er buddhistische
Altarbilder. Er zeigt mir eine Kannon von außergewöhnlicher
Schönheit. Seit er auf "herkömmliche" Art male, sei ihm
auch die religöse Dimension vieler seiner Hautbilder aufgegangen, vor
allem verstehe er nun bei den Hautbildnissen die "orthodoxe" Symbolik
richtig einzusetzen. Malen sei ihm wie Meditation. "Ich denke jetzt viel
über menschliche Grundfragen nach, den Sinn des Lebens und Sterbens, aber
vielleicht hängt das mit dem Alter zusammen", fügt er ein wenig
befangen hinzu. Zudem gehen vermehrt viele seiner Hautkunstwerke den Weg alles
Irdischen. Immer wieder sterben ehemalige Kunden, unter Yakuza nicht selten
vorzeitig und "unnatürlich", manche aber auch des unter Yakuza
in mehrfachem Sinne "natürlichen" Todes an einer Leberzirrhose.
"In Japan ist Feuerbestattung üblich. Meine Werke gehen also in Rauch
auf. Beim Gedanken daran, wird mir die Bedeutung der Vergänglichkeit im
buddhistischen Sinne klar. Gut, Fotos und meine Altarbilder werden bleiben, aber
Hautbilder sind was Lebendiges, sie leben mit und auf ihrem Träger,
vergehen damit aber auch mit ihm. Vielleicht ist das gut so," kommentiert
der Meister versonnen seine ephemere Kunst. Vielleicht ist es an der Zeit sich
auch in offiziellen Kreisen mehr Gedanken zur genuinen Ästhetik der sumi zu
machen, in einem Land, in dem andere tradtionelle Handwerke und Künste
stark protegiert, konserviert und ihre Meister mit Auszeichnungen dekoriert
werden. Wäre sumi als Kunst anerkannt, könnte
Horitsune II vielleicht ein sogenannter "lebender Nationalschatz" (ningen
kokuhô) werden. Ich mache eine Bemerkung in dieser
Richtung. Er lacht: "Das wird nicht passieren. Bis sich der
gesellschaftlich zugewiesene Stellenwert der horimono
ändert, dauert es noch Generationen. Die Menschen teilen sich für
mich in zwei Gruppen: solche, die die Schönheit einer Tätowierung
sehen können - unabhängig davon, daß die 'Leinwand' des Bildes
die menschliche Haut ist -, und solche, die ein Brett von Vorurteilen vor dem
Kopf haben und damit für die Ästhetik der Hautmalerei blind sind. Leute
im Kultusministerium gehören leider in die letztere Kategorie." Der
neue Trend unter jungen JapanerInnen, sich ein Hautbild machen zu lassen,
öffnet wenigstens einigen die Augen für eine traditionsreiche und aufs
höchste entfaltete Kunst in ihrem Land, eine Kunst, die es zu achten statt
zu ächten gilt. Möge dies einen - wenn auch noch so kleinen -
Einstellungswandel herbeiführen. Tattoo is beautiful. 1 Auf Deutsch gibt es eine emsig und mit Hingabe recherchierte Studie von Michael Martischnig: Tätowierung ostasiatischer Art. Wien: Verlag der österreichischen Akademie der Wissenschaften 1987 (= Mitteilungen des Institutes für Gegenwartsvolkskunde Nr. 19 = Österreichische Akademie der Wissenschaften philosophisch-historische Klasse Sitzungsberichte, 495. Band) Leider ist sie mit etlichen sozialhistorischen, japanischsprachlichen und tätowierterminologischen Schnitzern versehen, dazu die Rezension von Martin Kaneko: "Darum prüfe, wer zitiert..." in Informationen des Akademischen Arbeitskreises Japan 2/89 (Universität Wien). Auch die Fußnote auf S. 45 zu Yakuza - ein alter, wenngleich pensionierter Steckengaul meinerseits - ist kläglich bis obsolet: Bergleute und Dockarbeiter sind von Yakuza via Arbeitsvermittlung ausgebeutet worden, haben sich aber nicht zu Gangs zusammengeschlossen, tekiya sind nicht einfach "Erpresser", sondern ambulante Händler: die angeführten Traditionslinien machen heute mit dem Vormarsch der "Unternehmer-Yakuza" in die Legalwirtschaft kaum noch Sinn, dazu z. B. Wolfgang Herbert: "Gewalt statt Harmonie? Zum Wertewandel in der Yakuza-Ethik", Agi Schründer-Lenzen: Harmonie und Konformität. Tradition und Krise japanischer Sozialisationsmuster. München: Iudicium 1996, 210-225. 2 Hinin waren in der Tokugawa-Zeit die aus der ständischen Ordnung (Samurai-Bauern-Handwerker-Kaufleute) in einen Paria-Status relegierten sozial Verachteten (wörtlich heißt der Terminus "Nicht-Mensch"). Sie gliederten sich in von Geburt diesem Stand Zugehörige (kakae-hinin oder koya-hinin) und die in diesen Stand Strafversetzten (no-hinin), für letztere bestand die Chance in den ehemaligen Stand zurückzukehren. * Nur als Beispiel in welchen Kontexten diese Argmentationsfigur auftaucht: Im Vorfeld der Diskussion um ein neues "Yakuza-Gesetz" nannte der Kriminologe Miyazawa Kôichi mehrfach als einen Grund der dringenden Notwendigkeit einer scharfen Gesetzeshandhabe gegen Yakuza, daß deren zahlenmäßig nicht unbedeutende Existenz (laut dem Polizeibeamten Takehana Yutaka käme hochgerechnet auf siebenhundert männliche Einwohner Japans ein Yakuza) und ihre Infiltration der Wirtschaft eine "Schande" darstellten, die immer wieder zu harscher Kritik aus dem Ausland (Japan bashing) führe, siehe Shinozaki Yoshiaki u.a. "Bôryokudan taisakuhô o megutte", Jurisuto (1991) 985/9, 11-26 * Zu punktuell verschärfter Polizeiarbeit, die auf "Ausrottung von Unsitten"
(hier: der Hautdekoration) etc. abgestellt ist, gibt es einen herrlichen
Spruch, der auf alle möglichen Aktionen zutrifft. Der gilt etwa auch in bezug auf den
notorisch erfolglosen Versuch der Polizei der Yakuza-Bosse habhaft zu werden,
um die Syndikate "vernichtend" zu treffen. Für solche und
analoge Fälle gibt es das ebenso luzide wie realistische Bonmot, das unter
Drogendealern in Hongkong Trost spendet: "Shooting the singer is no way
to stop the opera." # Inzwischen gibt es die Möglichkeit, Hautdekorationen per Laser zu entfernen. Wie einem Zeitungsartikel zu entnehmen ist, sollen 137 Leute dieses Service in einem entsprechend ausgerüsteten Spital in Osaka in Anspruch genommen haben (der Zeitraum ist dem Report nicht entnehmbar). Unter den "Patienten" sollen sich um die 40% ehemalige Yakuza befunden haben - auch ein Indiz für die Streuung und Diversifikation bei den Tattoo-Trägern, "Tsumeta yubi saisei, irezumi jokyo. Moto-kumiin shakai fukki ni kenmei", Asahi shinbun (yûkan), 28. Februar 1997, 19. 3 Der folgende Teil überlappt sich teilweise mit dem leider redaktorisch schlampig bearbeiteten Artikel von mir: "Spitze Kunst. Tätowierung japanischer Art", Japan Magazin Jan./Feb. 1996, 26-31, in den sich vom Autor nicht vorgesehene Fehlleistungen eingeschlichen haben wie etwa: Hôô statt Hôjô oder kishibori statt keshôbori. Über Horitsune gibt es auf Japanisch z. B. den Artikel von Ogura Takayasu: "Kuromon ichiba saigo no horishi", Ishii Shinji (Hg.): Osaka no gyakushû. Tôkyô nanka he de mo nai? Tôkyô: Takarajimasha 1994 (Bessatsu Takarajima EX), 230-236 4 Daß sich Tattoos auch in Deutschland steigender Popularität erfreuen, ist gar bis in die englischsprachige Presse in Japan vorgedrungen: Clifford Coonan: "Tattoos make their mark in Germany", The Japan Times vom 13. Juni, S. 15. Die Hautbildnerkundschaft soll dort inzwischen durch Polizisten, Supermodels, Pfarrer, Politiker, Journalisten oder Ärzte bereichert sein. Ein Zeichen für die Faszination, die ein ehemals "Unterschichtsphänomen" auf Intellektuelle ausübt. Erhöhte Schichtdiffusion und Pluralisierung von Lebensstilen und Selbstentwürfen gehen offenbar unter die Haut. ** In dessen weiß ich von Dirk-Boris Rödel, der regelmäßig für Tattoo-Magazine Artikel über die japanische Tätowierszene schreibt, und der sich in dieser bestens auskennt, daß etliche andere Meister ebenfalls sowohl traditionell japanische wie westliche Motive "im Griff bzw. in der Griffel haben". |