"Ein Mensch mit Selbstachtung hat kein Vaterland.
Ein Vaterland, das ist wie Vogelleim."
                                           E.M. Cioran

 

     Selbstablichtung in Textform erbeten: das geht freilich blitzschnell, denn ein braver Autor hat ja jede Menge Manuskripte, die auf dem Schreibtisch sedimentieren und in den Schubladen schlummern und nach entsprechendem (An)Suchen flugs hervorgezogen werden können wie die Kaninchen aus dem Hut des Zauberers. Voila! Für mich gibt's die dann immer so genannten "Japanischen Journale" zum Plündern und Probeschmökern. Da fand sich z. B. folgendes:

 

Lebensschnitte und -abschnitte

 

     Jede rückblendende Lesung der eigenen Lebenslinien unterliegt der Versuchung von Glättungen, begnadigenden Begradigungen, Interpretationen im verblendenden Licht der Gegenwart, das ebenso schummrig und konfus sein mag wie jenes der evozierten Vergangenheit. Die Beschwörung alter Erinnerungsbilder gleicht dem Betrachten verblichener Fotografien - Momentaufnahmen tauchen auf - gütig verklärt wie das falsche Lächeln in Familienalben. Dabei werde ich nahezu täglich gefragt - und ich frage mich auch selbst -, was ich hier - in Japan - zu suchen habe, oder freundlicher, wie es mich hierher verschlagen konnte. Da legt man sich dann Antworten zurecht, die zeitgerafft alle Schritte plausibel machen sollen. Das Ergebnis ist ein zurechtgeschnittener Film mit großzügigen Montagen, eine direkte Flugroute aus Jetperspektive, die alle Windungen, Krümmungen, Abschweifungen verwischt. Eine beruhigende Übersicht, die übersieht. Nachträgliche Orientierung im fernen Orient bieten biographische Puzzlestücke und Wegmarkierungen wie:

 

Irgendwann so gegen 1975/76: aus der elterlichen Bibliothek entwende ich Reiseberichte aus Indien, Bücher über Yogis, Fakire und obskure Gurus und verschlinge diese - wie man so richtig sagt. So richtig verdauen konnte ich sie schließlich noch nicht. Aber mein innerer Kompaß war fortan umgepolt. Ex oriente lux. Erich Fromm fällt mir in die Hände, Zen und Meister Eckehart befallen meinen urbaren Geist. Die spätpubertäre Sehnsucht lodert. Es gibt noch andere Länder außer Vorarlberg. Jeder Mathematik-Fünfer, Streit mit den Eltern und jede verunglückte Liebe kennen nun einen Fluchtpunkt. Wilde Träume von Ausbruch, Abhauen und großer Fahrt nach Indien, China, Japan lassen mich alle jugendlich übersteigerte Unbill und Schmach ertragen.

 

1979 bis 1988: Wohne in Wien, die ersten engen alemannischen Hüllen fallen wie Schuppen von meiner gegängelten Seele. Studiere Theologie, Philosophie, Soziologie und Japanologie, marodiere durch die Geistes- oder Geisterwissenschaften ... "da steh' ich nun, ich armer Tor, und weiß soviel als wie zuvor ..." In Magie habe ich mich auch versucht, in weißer, meditiere, betreibe Yoga, bin hoffnungslos auf Asientrip, heillos in Japanerinnen verliebt, multipel verkracht. Vorarlberg wird unbekömmlich: die adrette Borniertheit, die Garten- und Haus- statt Seelenpflege - das niedliche "Ländle" wird nur noch im Modus "flüchtig" heimgesucht. Das Wiener Kaffehaus hat meinen andressierten Arbeitsfuror kuriert. Ich bin ein gücklicher Trödelstudent. Abends praktiziere ich vorerst spirituelle Geistesflüge, bis ich vor lauter mißratener Askese und Guru-Unterwerfung abstürze. Dann widme ich mich wieder dem Karate, das meine innere Verbindung zu Japan nährt. Ich schreie, pfauche, lasse mich anpfauchen, hüpfe, trete und lasse mich treten - nach Kommando, bis mir die "Stählung des Körpers und des Geistes" auf den Geist geht. Wieder nichts gewesen. Das östliche Meister-Schüler-Getue stößt mir übel auf. Mein bislang immunschwacher Geist wird vorsichtig, pyrrhonisch skeptisch, stachelig. Jetzt laß' ich mir nix mehr einreden - denkste.

 

1988: Mein erster längerer Japan-Aufenthalt. Ein halbes Jahr lang ist alles so herzig und exotisch wie in den Bildbänden. Dann kippt das Bild um. Ich werde aggressiv. Die Arbeitslageratmosphäre und die Menschenmassen in den Innenstädten machen mich schwindeln, die schwindelhafte Betriebsamkeit läßt Alemannien fast als Süd- oder Bodensee-Idylle erscheinen, nein, das ist schon wieder nostalgisch geschwindelt. Mir ist, als stünde ich in einem sterilen Labor, eingekeilt in eine gigantische Zentrifuge, die unerbittlich immer schneller beschleunigt - bis sie mich ausspuckt. Zen und Kirschblüte: zertrampelt und verwelkt. Meine Illusionen zerbröselt. Im Auge des Geldreigentaifuns lerne ich neu sehen. Auch mich sehen. Und tanzen. Ich bin der Grenztänzer, die Randexistenz, der Ex-Zentriker im besten Wortsinne. Nichts ficht mich mehr an. Jetzt habe ich gleichviel spielerische Distanz zu beiden Welten. Ich lebe in Trans-Eurasia.

 

1991: Rückkehr nach Wien: In wenigen Tagen sind die alten Routinen wieder eingespielt, selbst das Knarren des Küchenbodens intoniert das einst vertraute Lied. Zwei Jahre habe ich an anderen Herdfeuern verbracht. Sie sind wie ausgeglimmt. Meine Freunde und Freundinnen sprechen eine fremd gewordene Zunge. Wir tun, als wäre nichts geschehen. Wir schwelgen in alten Geschichten, sitzen in denselben Lokalen wie früher. Wie zehn Geier nagen die Jahre meiner Studentenzeit am Aas meiner abgelegten Rollen. Und drohen mir an allen Ecken, mich einzuholen. Der anfängliche Rückkehrjubel ist erstickt. Der lange Winter macht mich krank. Mir ist, als hätte ich den grauen Star. Meine erste Wahlheimat Wien hat ihren Reiz verschenkt. Ich muß wieder weg.

 

1994: Ich lebe in der mondänen Hafenstadt Kôbe, arbeite im provinziellen Tokushima. Jede Woche mache ich eine kleine Reise auf eine andere Insel. Dort übernachte ich einige Tage. Sitze in der Studierstube und unterrichte auf der Universität ... "und ziehe ... meine Schüler an der Nase herum - und sehe, daß wir nichts wissen können!" Und bleibe gelassen dabei. Dann kehre ich zu meiner Frau, sie ist Japanerin, und meinem Sohn zurück. Ich bin ein kultureller Doppelagent mit einem Doppelleben. Ich bin ein Jongleur, ein Identitätsakrobat, jenseits aller einfachen Vereinnahmung. Eine gefährliche, aber auch gefährdete Existenz. Nicht befreit wie Buddha, aber frei. Frei von vielen irdischen Fesseln, die sich Einbahnmenschen freiwillig anlegen.

 

Abend, rot getönter Horizont, eine dünne, bleiweiße Lichthaut spannt sich über den Himmel, die Blüten des Oleander glühen wie gesegnet vom schwindenden Licht, Vogel - schreilos entflogen. In diesem Augenblick, in diesem Blick bin ich ortlos da, bin Windhauch, Pneuma, Leben. Über die Gnade eines blitzwachen Moments bricht das All in den Alltag - kurz nur bin ich daheim.

 

Ich liege auf meiner Futon. Die Morgensonne scheint mir auf den Pelz. Ich schließe noch einmal die Augen. Höre den Ruf eines Milans, und schon bin ich der Vogel, der wendige, fliege über der Insel, lasse mich nach unten fallen, das Panorama stürzt auf mich herein, ich sehe das Meer, lasse mich vom Aufwind hochtragen, gleite plötzlich über den nahe meiner Wiener Wohnung gelegenen Währinger Park, dann über das Rheintal, fliege wohin es mir beliebt - ich bin nirgends mehr zuhaus', damit aber überall.

                     

Skizzen, Splitter, Scherzi

    

Zurück in Österreich: der Gulliver-Effekt. Das erstaunt-ungläubige Gesicht zu meinen Erzählungen und Schwänken und Schnurren aus Japan. Sie sind einfach nicht nachvollziehbar für meine Gegenüber, sie sehen mich an wie einen professionellen Flunkerer, der seine Wahngebilde für die Wirklichkeit hält. Wahrscheinlich ist er ein bißchen verrückt geworden, die asiatische Sonne hat ihm anscheinend ein wenig den Kopf versengt, denken sie wohl insgeheim. Zu anderen Zeiten hätte man mich möglicherweise weggesperrt.

 

Es ist mir stets, als sähe ich die Dinge wie zum letzten Mal. Die Bilder brennen sich scharf ein wie auf eine Fotoplatte. Das metallisch glänzende Meer, die gülden untergehende Sonne, der Dunstflor, der leuchtende, vor den Hügeln. Sehen wie zum letzten Mal - eine Auferweckung, ein Alarmieren, Wachrufen der Sinne. Hochspannung. Der Fremde: immer im Wechselstrom des Sehens wie zum ersten oder zum letzten Male.

 

Dennoch: "Erstaunlich die geringe Anzahl von Erinnerungen, die mir von den einzelnen Epochen meines Leben blieben, und ihre Unbestimmtheit. So jenes Hotelzimmer in der Rue d'Odessa - die schwache Glühbirne und der Spiegel an der Decke, das Dröhnen der Züge - aber was noch? Man wird wie im Traum gelebt haben."              Philippe Jaccottet

 

Spätnachmittag: die Begleiter des Winters: die Krähen. Sie flügeln Richtung Hügel auf der Suche nach einem Schlafplatz. Und krächzen dabei genau so wie ihre Vorfahren vor Jahren und hunderten von Jahren es getan haben mochten. Der Krähenruf: sicher in irgendeinem undenklich alten Gedicht festgehalten: und heute wieder da und im nächsten Winter und im Winter darauf ... . Dem schwindenden Licht trauern jammernd die Bülbüls nach. Ihr Lied oder der klagende Zuruf an Seinesgleichen: ein langgezogenes, weinerliches "zieh zieh!" Vogelgospel.

 

In Japan bin ich Berufsausländer. Zum Anschauen, Anstaunen, Anstarren. Für ewig auf die Außenseiterrolle festgelegt. Werde nie Teil dieser Umgebung sein. Dafür sind nur minimale Anpassungsleistungen gefordert. Man kann sich immer auf die tumbe Unwissenheit des Barbaren zurückziehen. Hat Narrenfreiheit. Das verleiht eine eigene Leichtigkeit. Und morgen kann man folgenlos abfahren. Viele kaukäsige Langzeitresidenten beklagen sich über fehlende Weltoffenheit, mangelnde Akzeptanz des Fremden, über dieses Stammesdenken entlang eines "wir" (Japaner) und die "anderen" (Ausländer). Aber im Grunde wollen wir gar nicht eingebunden sein, wir lieben unsere randständige Position, wir sind hier, weil wir gerne Marginale, Grenzgänger, Herrenlose sind.

 

... der mit seinen Flügeln atmende phosphorfarbene Schmetterling auf dem Stein ... meine Majestät, der Milan, läßt sich tragen über mir von der Sänfte des Windes. Lokomotivenpfiff - windelweich werde ich vor Fernweh.

 

Baum möchte man werden manchmal, Baum werden. Sein schweres Platanenblut erwärmen lassen in der Sonne, so im Licht stehen, so sein ohne Fragen, sein Sein sein. Licht trinken, Schatten spenden, den Wind und den Regen lieben, Vögel einladen und nisten lassen, gewissenlos Samen verstreuen, absichtslos sein. Baum sein möchte man manchmal - oder Lilie des Feldes.

 

Bei aller Distanz, die man innerlich gewonnen, ja sich erobern müssen hat, bei allem Ressentiment sogar, ist die Rückkehr in die "Heimat" immer so etwas wie ein Boden-unter-die-Füße-Bekommen, ein Auftanken, eine Gemütserfrischung. Die abgelebte Jugend ist anwesend in tausend Bildern und buchstäblich an jeder Ecke. Jedes Gebäude flüstert Geschichten, die Schule, das Nachbarhaus, das Schwimmbad, der Ort des Stelldicheins mit der einst Geliebten, Schmerz und Glück sind da immer noch irgendwo gebannt und werden erst jetzt und durch inneren Zuspruch sachte erlöst. Man geht mit dem selbstherrlichen Gefühl, nicht mehr hierherzugehören, durch die Stadt, lächelt koboldhaft in sich hinein, läuft sich frei, bald wieder im Flugzeug, adieu. Drei, vier Monate wären entschieden zu lange: die ganze erdrückende Schwere der Vergangenheit holte einen ein und würde die Gegenwart einschnüren in ein atemnehmendes Korsett, geflochten aus all den abgelegten Gewohnheiten, eingespielten Rollen, der Duckmäuserei und Anpassungsverlogenheit. "Heimat" ist ganz eigentlich heimtückisch.

 

2005: Zurückgekehrt bin ich letztlich zu meinen Jugendträumen: daheim fühle ich mich am ehestens noch in den Zen-Tempeln. Dort sitze ich Ort und Zeit vergessend, zeitlos ist das Sitzen nach der Art des Prinzen aus dem Geschlechte der Shakya, zeitlos wie das Gluckern der Quelle, das Wispern des Windes.

 

Wintermond

Kamelienblütenfall auf nassen Stein 

plop!

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Erschienen in:

V # 14/15 – Vorarlberger Zeitschrift für Literatur: Texte einer Ausstellung, 2005, 89-94