"Überfluß haben, heißt verwirrt werden."  Lao-tzu

 

Eine Zugvogelperspektive

 

     Zugvögel brauchen Nester. Wenigstens zwei. Ich habe mindestens vier. Die fremden, in die ich mich zuweilen einniste, nicht mitgezählt. Das unter allen älteste, wenngleich kälteste, d. h. jährlich am kürzesten bebrütete, befindet sich in Bregenz. In aller Regel - Zugvogelrouten sind sehr stabil - "fliegt", bei der ÖBB ist das immer noch: fährt der Zugvogel aus Wien kommend von den schroffen Bergen und Schluchten her in die zunehmende Weite, Öffnung, die Lichtung des Rheintales hinein. Auch ihm wird dabei weit und leicht zu Mute. Aber dann: zunehmend auch die Verschrebergärtelung, Verhäuselung - die Versteinerung.

     Sein Vaterstädtchen liegt am See, an dem die Verhüttelung und Verschotterung Halt macht, so als hätte er - der See - in überstarken Gezeiten die ganzen Gebäude und Betongebilde angeschwemmt und da stehen gelassen. Städtchen sagt er, weil er weiß, was Städte, Mega-Städte sind, seit er in Japan lebt. Auch weiß er seither, wie erbarmungslos sich der Baukrebs in die Landschaft vorfrißt, so er einmal ausgebrochen ist. Und denkt sich, das Rheintal ist viel zu schön, um in der mineralischen Versteppung zu enden.

     Jeden Sommer macht er Station, läßt Erinnerungen aufsteigen und staunt über Neuigkeiten und Neuheiten. Es scheint ihm, als ob von Jahr zu Jahr die Zahl der Sommergäste geradezu exponentiell anstiege. In der Seepromenade spielt sich ein endloses Defilee ab. Nachmittags dominieren kurze Hosen, Flatterhemden oder enge denkbar klein bemessene Hautbedeckungsmittel, gewollte oder überquellbedingte Bauchfreiheit, Röckchen und Sandalen. Abends schreiten legere Eleganz und würdevolle Pose Arm in Arm Richtung Festspieldom am See. An diesem wie angepflockt giganteske futuristische Aufbauten für das Hauptspektakel. Darunter verstörtes Entengequake.

     Ferner wird ein jährlich Mehr und Mehr bis Zuviel an allen Künsten geboten in einem so genannten "Rahmenprogramm", das längst jeden Rahmen sprengt. Abendliche andächtige Pilgerschaften kreuzen sich in Sachen Kunst und Kultur. Daneben und danach herrscht eine lärmende, bäuerische Geselligkeit der Älteren in überfüllten Speise- und Schanklokalen. Die Jüngeren zucken rhythmisch und dicht gedrängt in coolen Bars im Neonröhrenschein und nippen an bunten Getränken.

     Untertags schießen auf der Pipeline parallel zu der sommerlich programmierten und nie abreißenden Autoschlange kettenweise Fahrradfahrer gefährlich nahe am Spaziergänger vorbei, der hinter seinem Rücken keine Sicherheit mehr weiß. Es vergeht ihm Flanieren und Sehen. Sportler und Schmerwänste sausen da auf Rad und Tritt: bronziert und drahtig die einen, rotbackig und feist die anderen, mit unterschiedlicher Geschwindigkeit, aber in derselben Kluft, als wollten letztere erstere parodieren - alle hingegen so verbissen, als hätten sie vergessen, dass sie nicht bei der Arbeit sind.

     Wie ein riesiger Kultur- und Freizeitpark mutet das Rheintal im Sommer an. Gehobenes Disneyland. Sehr gehobenes, zugegeben. Sonne, Spaß und Musenkuss. Im Winter dann: alles wirkt wie unter Hausarrest, die Routine lastet auf der desertierten, düster, neblig, öd und kalt gewordenen Talschaft, deren Einwohner dem nachgehen, was sie in fröhlicher Vermessenheit "schaffen" nennen - irgendeiner Form des Beschäftigseins. Dann verkriechen sie sich in ihre zu Hauf vorhandenen Häuser, die sie sich gebaut haben als Stein gewordene Träume vom Glück. Allzuoft nur mutieren die vermeintlichen Glücksparzellen zu alptraumgeschwängerten Gefängniszellen. Aber sie bauen wacker weiter.

     Was ich vermisse, das ist eine wirklich heitere Gelassenheit, eine schlichte Ruhe, ein wenig Zen. Hier ist nichts von Abgeklärtheit, nur unbestimmte Gier nach dem Neuen und dem Vielen. Immer sind sie noch da die Gebärden und Attitüden des Provinzparvenüs und Nachzüglers unter den Kulturpflegeanstalten Österreichs. Die sind nicht überspielbar mit Imponiergefuchtel und Flitter und Feuerwerk.

     Das könnte mir alles egal sein, ich ziehe ja wieder ab. Ich habe auch kein Gegenprogramm, keine Vision, kein Rezept, keine Antworten. Aber einen kleinen Daimon in mir, der mich stichelt und zum Innehalten aufruft und Leute anhalten möchte, um ihnen sokratische Fragen zu stellen: Was ist das eigentlich das Schöne? Und das gelungene, das gute Leben? Was hat es mit der Kunst und dem Göttlichen auf sich? Sollten wir nicht geruhsam nachdenken statt rasend und geblendet von der Spaßsucht von einem - so heißt das heute - Event zum anderen eilen? Oder ständig neue Events aushecken und noch zu errichtende Stätten namens Venues mit möglichst viel Stahl und Glas für diese Events ersinnen? Wen oder was gilt es denn hier laufend zu überbieten?

     Wie bei einem Film möchte ich die oben aufgetauchten und realen Bilderfolgen stoppen und alle darin Beteiligten nach dem Sinne ihres Treibens fragen: die Autofahrer, die Inline-Skater, die Sonnenverehrer, die Kunstmachenden und -konsumierenden, die Baubewohner und -errichter, die Partygeher und die Abseitsgebliebenen .... . Ich möchte ihnen mitten im postmodernen Aller- und Einerlei verfemte Fragen stellen, Fragen nach dem Bleibenden, dem Wesen, dem Sein, dem Seelenheil, nach den letzten Dingen. Aber gewiss würden sie den Kopf schütteln oder mich anzischen, ich möge mich trollen oder mich des hoffnungslos Altgewordenseins und des damit einhergehenden Narrentums bezichtigen. Dabei möchte ich nur ein wenig freier Luft holen können. Innehalten ohne aus ungebetenen Füllhörnern zugeschüttet zu werden. INNEHALTEN, um über die Tugend des wahren, des taoistischen Nichtstuns und Sein-Lassens, des Sich-Zurücknehmens reflektieren zu können. Reduktion ist auch eine hohe Kunst. Womit ich womöglich doch noch ein Fragment einer Rezeptur herbeigeschmuggelt habe.

    

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Erschienen in: V # 14 – Vorarlberger Zeitschrift fur Literatur. Stadt Land Fluss. Leben im Rheintal, 2004, 116-118