Wolfgang Herbert Impromptu
zu Wolfgang Hermann's "guter Fremdheit". Zugleich ein Plädoyer
für die "reine Literatur" "Wenn
ich schreibe, interessiere ich mich nur für Sprache." Peter Handke "Philosophie
ist eigentlich Heimweh, der Trieb überall zu Hause zu sein." Novalis Was passiert mit
mir - und dies wird eine ganz persönliche Nachvollzugsgeschichte zu
Wolfgang Hermann's Städteprosa sein - was passiert also mit mir, wenn ich
mich mit meinem Namensvetter lesend auf eine Wanderung einlasse, langsam, adagio
cantabile, z.B. in die
helle Trostlosigkeit des winterlichen Sizilien. Stundenlang schauen wir dem
fischerstädtischen Treiben zu, streifen mit Luchslinsen durch die
dürre Fülle der hibernalen Landschaft und verkriechen uns dann vor
dem gischtigen und heiseren Wind in die Tavernen, unsere Fluchtorte, brauchen
Wein und bezeugen den Tanz des Fleisches. Ein melodischer Sog zieht mich in den
Text hinein (und das gilt nicht nur für diesen Canto, diesen Psalm).
Schaukelnd auf dem Rhythmus der Sprache ziehen wie Gondeln die Bilder herauf.
Perspektivische Weite wechselt mit Dichte der Szenerie, die Totale mit dem
Zoom-up. Und immer der Blick hinter die Fassaden des Menschen und
Mensch-Gemachten, der kurze Sprung ins Jenseits des Ich-Zaunes, Grenzgänge
zwischen den Welten des Vordergründigen und des Abgrunds dahinter, den
Welten der Verstrickung und der sekundenhaften Erlösung, des Ewigen und
des Augenblicks - hier erzählt der wahre Weltenbummler. Auch auf Fahrt in die Metropolen kann ich
mich begeben mit Wolfgang Hermann, nach Paris, Berlin, New York. Und kann sie
nicht schöner beschreiben als mit Paul Nizon: "Die Fahrt führt
durch Straßen und Stunden, durch Alltag, dessen Obstakel und Langeweile, Wüsten und
Gedankenregen, Vertrautheiten und Fremde. Sie kann urpötzlich aufleuchten,
dann gibt sich mitten im Unterwegssein das große alte Muster der
Lebensreise zu erkennen. Es bricht sich schillernd im Brennglas der eigenen
Existenz. Und so weit das Licht reicht, entsteht Welt." Und es ist ein
eigenes Licht, das mir Wolfgang Hermann reicht, ein Lichtblick, der mir
Welt - seine wie meine -
erschließt. Und wir entdecken, daß wir einen Begleiter haben, einen
schüchternen, es ist unsere "Herkunft", die in jeder Ankunft je
immer anwesend ist - "das Kind" ist die Chiffre dafür. Und es
erinnert uns immer an das Verlorene, klatscht uns entzückt wach,
läßt unvermutet bunte Bilderballons aus unserer Vergangenheit
hochschweben. Es lebt in der Schwebe, beherrscht den Zauber des Vergessens und
Wiedererinnerns. Es ist Zeuge unserer Verwandlungen und am fröhlichsten im
Unterwegssein. Und das gibt uns stets die Reinheit, die Erwartungsfreude, das
Lebendigsein zurück. Wir flanieren durch die Städte und laufen uns
frei. Und "mit dem Schritt der guten Fremdheit" erwacht der gute
Blick. Es ist die Art von Wahrnehmung, die ganz
spezifische des Reisenden, die in jedem potentiell schlummert, und die uns
Lesenden die Augen neu öffnet: für die kleinen taktgebenden
Verrichtungen des Alltags in kulturellen Varianten, die wiederkehrenden
allerweltsmenschlichen Plagen und Wonnen, den Ennui und die Ekstase. Es ist
eine durch äußerste Aufmerksamkeit gekühlte Ekstase, in der
Wolfgang Hermann seine Exkursionen macht. Die fremde Umgebung zwingt durch ihre
Unkalkulierbarkeit zu hoher Wachsamkeit, Wachsamkeit auch für das eigene
Innenleben, die Biographie. Immer wieder tauchen unerwartet die Farben und
Düfte der Kindheit auf, schmerzen manchmal Narben beim Blick in ein
verletztes Kinderauge, jubelt aber auch Freiheit im Entkommensein auf. Wolfgang
Hermann beschreibt in einer Haltung der lauteren Epoché bei gleichzeitig
völligem Drinsein, Innesein. Ja, seine Ichkonturen verfließen
zuweilen, und er geht auf in der Atmosphäre des Ortes - der Genius loci
spricht zu uns. Und die Proust'sche Synästhesie belichtet alles Erlebte
doppelt, tatsächlich läßt das lange Leben in der Fremde doppelt
helles Licht fallen auf das Neue wie Alte. Damit gewinnt die eigene
Vergangenheit Konturen - bei bestmöglicher und wohltuender Ferne und Distanz.
Und diese Distanz ist gegenwärtig an der neuen Stelle - auf der er aber
nie tritt. Denn er ist enthoben jeder Ortsgebundenheit, jeder Gravitation und
dennoch ganz bei Sinnen da - somit mehr da als viele Autochthone, die durch
Routine und Plackerei dumpf gemacht worden sind. Und dem Abstumpfen sind wir
täglich ausgeliefert. Lese ich Wolfgang Hermann, kann mir passieren,
daß ich eine kleine Enklave Natur inmitten der geisttötendsten
Großstadtroute zu meinem Arbeitsplatz neu funkeln sehe - welch erquickende
Auferweckung. Was kann Literatur Schöneres mit einem machen? In Wolfgang
Hermann's Büchern werden keine falschtönenden Botschaften
feilgeboten, keine moralischen Kicks verteilt. Seine geschärfte
Wahrnehmungsfähigkeit hingegen destilliert zu einer Sprachschönheit,
die mich stellenweise blendet, aber auch ein in mir schlummerndes, verstaubtes
Instrument zum Resonieren bringt. Manchmal wünsche ich mir einen
dreckigeren, lebenshärteren Zwischenton - aber darum geht es ihm wohl
nicht, er will uns vielmehr unsere verschenkte Sensibilität wiedergeben,
uns in ein feineres und seidenes Innewerden der Dinge entrücken - das
Licht im Stein sichtbar machen. Die nomadische Existenz oder das
freiwillig gewählte Exil - von beidem künden Wolfgang Hermann's
Städtetexte - entführen uns in ein Zwischenreich, das sich notwendig
auftut: wir müssen uns neu einrichten. Entborgene schaffen sich einen
neuen Ort oder Un-Ort der geistigen Geborgenheit. Dieser Prozeß treibt
unser Seelenfünklein auf seine Spitze und führt zu verwegenen
Oszillationen zwischen Ich und Nicht-Ich, wie sie in Wolfgang Hermann's Texten
ja auch aufblitzen. Im "Exil" sind drei (gleichermaßen falsche)
Optionen denkbar: den - dank oder undank des Aufenthalts in der Fremde -
doppelten Verlust der Kindheit durch irreführendes Zurückdrehen der
verlorenen Zeit nostalgisch zu verbrämen; sich durch Akkulturation
behaglich einzurichten - nur um den Preis, sich durch schmerzliches
Wurzelkupieren zu kastrieren oder das Exil zu fetischisieren und sich somit auf
imaginäre, luftleere Gipfel zu versteigen. Für den/die Betroffene(n)
gilt es, die vibrierende Spannung auszuhalten, die diese täglich sich
anbiedernden Möglichkeiten mit sich bringt, gilt es, ein neues Ich
(wäre dieser Begriff nicht schon totgeritten und lahmgepeitscht,
würde ich frohgemut von "Identität" sprechen) auszuformen,
jenseits von Regression, Repression und Flucht. Was immer offenendiges Projekt,
Herausforderung, Exerzitium bleibt. Wolfgang Hermann beschwindelt sich und uns
nicht. Er läßt uns teilhaben an seiner Verlorenheit wie
Aufgehobenheit, zeigt uns niederdrückende Öde wie
wachstumsfördernde Fülle, leergelaufene Stunden wechseln mit prallem
Erleben. Auch erzählt er mit exilgeschärftem Blick vom Ephemeren sub
specie aeternitatis, von
seiner Befreiung, vom Loslassenkönnen, von der Verpuppung, nachdem die
abgeglittenen Schleier der Jugend durchsichtig geworden sind. Wandern macht die
Wandlung bewußt. "Exil" heißt, die stete Metamorphose -
also das Leben - zu verdichten und unausweichlicher zu spüren,
unentrinnbarer von der vanitas angehaucht zu werden, täglich den kleinen Tod und die kleine
Wiedergeburt zu feiern. Wolfgang Hermann lesen erfordert
Konzentration und geistige Mitarbeit. Er ist ein Sprachmensch. Er lamentiert
nicht. Seine Gefühle sind sehr sachte zwischen die Zeilen eingebettet. Er
ironisiert weder das Hohe noch Triviale. Aber er läßt aufkeimende
Stimmungen zu, voll zur Blüte kommen. Er hält uns zur Langsamkeit
oder besser Behutsamkeit an. Und bekommt sicher den Innerlichkeitsvorwurf an
den Kopf geschmissen. Oder die Rede von Mystifizierung. Das sagt hingegen mehr
über die deutsche Literaturkritik (und deren - wieder Paul Nizon:
"Schwierigkeiten mit dem Gefühlsapparat") als über ihn selbst aus. Jeder Anspruch
Literatur müsse so oder so sein, diese oder jene Message haben, ist
totalisierend. Es gibt Arbeitsteilung - mit meinetwegen anschließender
Publikumsteilung. Vielleicht ist Wolfgang Hermann's Epoché, sein
Nicht-Handeln, wuwei,
das Zurücktreten, die Bedächtigkeit eine der legtimsten Antworten und
Haltungen im Zeitalter der entfesselten Mobilisierung, Modernisierung,
Destruktion. Nicht Mitläufer und Handlanger des technischen Overkill sein,
sich Zurückhalten und -nehmen - eine Aufforderung zum Leben.* Und alles in Sprache fließen zu
lassen, scheint mir Wolfgang Hermann's Wesen entsprechende
Lebensäußerung. Dem Geständniszwang, dem wir in der heutigen
Psycho- Gesellschaft
ständig ausgesetzt sind, dem notorischen Warum, warum wir dies machen oder
jenes oder eben so und nicht anders schreiben, möchte ich ein
"asiatisches" Antworträtsel anbieten - mit dem Wolfgang Hermann
hoffentlich sympathisieren kann: "Frägt man eine Blume, wieso sie
Duft verströmt?" Erschienen in: Mnemosyne.
ZEIT-Schrift für Geisteswissenschaften, H.18 (Mai 1995), 51-53 * Damit begebe ich mich wissentlich und
durchaus wohlgemut auf poetologisches Glatteis. In Zeiten wie diesen erübrigt sich eine Zusatznotiz dennoch nicht:
dies hat mit einer Aufforderung zu politischer Blindheit nichts zu tun. Für Gesinnungsexhibitionismus (pfui) wie
politisches Engagement (bravo) gibt es auch andere Medien und Kanäle - wozu das also mit moralischen
Imperativen und um jeden ästhetischen
Preis in die Literatur hineintragen wollen/sollen/müssen? |