Wolfgang Herbert

 

Ochikobore - Absturz auf Japanisch

 

Szene 1 - Kamagasaki: das Tagelöhnerviertel von Osaka

 

     "Der Zug rattert monoton dahin. Es ist ein klarer Herbsttag. Eine gleißend weiße, kretische Sonne nähert sich unerbittlich dem Horizont. Die Häuserfassaden blitzen. In der Ferne sehen die Betonhütten aus wie wahllos verschütterter Würfelzucker. Alles verbaut, verhäuselt hier, denke ich, zubetoniert. Japanische Großstädte haben die bizarre, chaotische Schönheit von Strandgut. Jedenfalls verstört ihr Konglomeratcharakter das westlich rational-geordnete Sehraster. Mit Grünflächen wird erbarmungslos gespart. Nur hie und da sehe ich Ginkgobäume, diese begeisternd schwefelgelben Fackeln - untrügliche Herbstfanale. Der Zug fährt nun hoch über den Straßen. Diese Bahnlinie der JR (Japan Railways) wird 'überirdisch' geführt. Wie auf Stelzen schlängelt sich die so genannte Loopline, in der ich sitze, in einem Kreis von der Stadtmitte Osaka's nach Tennôji und von dort wieder zurück nach Umeda, dem Zentrum. Eine Station vor Tennôji steige ich aus. Ich gehe die Treppen des Bahnhofs Shin'imamiya hinunter und überquere einen verkehrsreichen Boulevard. Vor mir steht ein mehrstöckiger Bauklotz. Seine dekorlose, unansehnlich funktionale Architektur weist ihn als öffentliches Gebäude aus. Es ist das 'Bezirksarbeitsamt'. Ich lasse es rechts liegen und biege in eine Nebengasse ab.

     Die Luft riecht nach Urin, Alkohol, Küchendämpfen und Müll. Jede Gegend hat ihre unverkennbare Duftmarke. Wir befinden uns in Kamagasaki, dem Tagelöhnerviertel von Osaka. Präziser: auf dessen 'Hauptstraße', der 'Ginza', wie die Tagelöhner sie humorig in Anspielung auf die berühmteste Einkaufsstraße Japans nennen. Mit der wohl teuersten Meile der Welt hat diese Straße hingegen wenig gemein. Kleine Eß- und Trinklokale, Cafés, Münzwäschereien und Pensionen stehen dichtgedrängt auf beiden Seiten. Die Szene wird beherrscht von 'Hotels', in denen die Tagelöhner gegen Vorausbezahlung übernachten können. Ins Auge fällt die überdimensionale Polizeistation. Einen 'Mammut' nennen ihn die Arbeiter. Das Viertel hat lediglich 0,62 Quadratkilometer, beherbergt hingegen runde 25.000 Tagelöhner[1]. Die Zahl der Pubs (1988: 179) übersteigt die der Restaurants (155). Im Quartier befinden sich 22 'Büros' der Yakuza, der japanischen 'Mafia' und an 14 strategischen Stellen Überwachungskameras der Polizei. Dies nur als erste Andeutung in bezug auf die eher ungewöhnliche Binnenstruktur dieser städtischen Enklave.

     Auf dem Trottoir kauern Männer in der Hocke und trinken billigen so genannten one-cup-Sake, Reiswein aus breitrandigen Gläsern, die mit einem abreißbaren Blechverschluß versehen sind und die hier allenthalben aus Getränkeautomaten gekauft werden können. In einer Seitenstraße liegt ein Mann in schon komatösem Schlaf, seine Arbeitskleidung ist verschmutzt und zerlumpt. Ein in diesem Ambiente durchaus normaler Anblick. Hat sich wohl einen Sake zuviel gegönnt. Auch das eine Alltäglichkeit, Allstündlichkeit hier. Ich gehe weiter in Richtung 'Dreieckpark', der am Ende der 'Ginza' liegt. Park ist ebenso übertrieben oder euphemistisch wie 'Ginza'. Es ist ein umzäumter trostloser Sandplatz mit einem auf einem Podest stehenden Fernseher, in dem die Tagelöhner Nachrichten, Sportsendungen oder abends die unsäglich dummen, aber offenkundig unterhaltsamen Quizzshows ansehen können.

     Auf der gegenüberliegenden Straßenseite kommt mir ein elegant gekleideter Mann entgegen. Ich bin nicht das erste Mal in dieser Gegend und weiß instinktiv, daß er mit diesem Outfit nicht ganz hierher paßt. Schwarze Lederjacke, schwarzes Samthemd, dunkle Designerhose, glänzende Schuhe. Ein Gangster, denke ich mir. Nein, dazu sieht er zu nonchalant aus. Er ist schlank, sehnig, hat ein von der Sonne dunkelbraun gebranntes Gesicht mit einem kräftigen Bartschatten. Wie er mich wahrnimmt, lächelt er zuvorkommend und einladend, hebt die Hand und ruft: 'Hallo, wie geht's? Was treibst du denn da?' Ich überquere die Straße und gehe ihm entgegen. Er streckt seine Hand aus und schüttelt dann die meine kräftig. Eher ungewöhnlich in Japan. Sein Lächeln ist wirklich gewinnend. Er ist mir auf Anhieb sympathisch. Er hat zwei tiefe Furchen in seinen Wangen - fast wie Clint Eastwood. Auf der linken Stirnseite ziert ihn, würde man in seinem Milieu sagen, ein fingerlanger 'Schmiß', eine Narbe von einer Messerstecherei, wie er mir später erzählt. 'Ich kenn' dich vom Sehen,' meint er dann, kaum daß ich eine Begrüßung gestammelt habe, 'ich habe dich im Sommer beobachtet, Mitte August, du weißt schon, die Zeit unseres Straßenfestes. Los, gehen wir ein Bier trinken. Ich lade dich ein.' ... 

     Wir sitzen in einem kleinen Eckbeisl beim Dreieckpark. Es ist praktisch eine Art Stehkneipe: Theke mit Barhockern, eine Vitrine hinter der sich die angebotenen Speisen befinden, auf dem Wandregal die obligatorischen Flaschen mit den stärkeren Alkoholika, die dort aufgereiht stehen wie bunte Orgelpfeifen. Hinter dem Tresen macht sich der ... Wirt zu schaffen. Eben kehrt er uns den Rücken zu, da er Fische in einer Kochnische brät, was den kleinen Raum mit würzigem Qualm erfüllt. Es sind noch drei andere Gäste da, die sich lautstark unterhalten. Einer trägt erbarmenswert dicke Augengläser, einem anderen fehlen zwei Fingerkuppen - wohl eher ein Hinweis darauf, daß es sich um einen (ehemaligen?) Gangster handelt als um einen Unfall, der dritte lacht mit nahezu zahnlosem Mund. Alle tragen sie Arbeitermontur, sie haben wettergegerbte Gesichter, rauhe Hände und rauhe Manieren.

     'Zum Wohl', sagt mein Gastgeber, womit alle unaufgefordert ihre Gläser heben und uns zuprosten. 'Ich heiße Andô', fährt er fort, die übrigen Zecher ignorierend, 'aber du kannst mich wie alle hier An-chan nennen. Und wie heißt du - und woher kommst du eigentlich?' ..."[2] Nach dem üblichen Austausch der gröbsten persönlichen Daten, um sich gegenseitig einordnen zu können, parlierte An-chan freizügig und ausschweifend aus seinem Leben. Er ist später einer meiner wichtigsten Konfidenten in der Tagelöhnerszene geworden.

     "'Seit fünfzehn Jahren bin ich in diesem Viertel, fünfzehn Jahre Kama. Was meinst du, wie alt ich bin?' Ich gebe ihm Anfang vierzig. Es ist schwer, das Alter von Tagelöhnern zu schätzen. Unter ihnen befinden sich nicht wenige in erbärmlichem Zustand. Augen- und auffällig ist meist der lückenhafte Bestand an Zähnen. Jahrelange harte Arbeit unter freiem Himmel, harter Alkohol- und Tabakkonsum haben zudem ihre Haut in einer Weise zugerichtet, daß mitunter Leute, die kaum Mitte dreißig sind wie fünfzig aussehen."

     Während dem Gespräch "machte er mit dem rechten Zeigefinger eine schräge Bewegung quer über seine Wange, als ob er einen Schnitt andeuten wollte. Die Geste war mir bekannt. Angespielt wird damit auf ein vernarbtes Gesicht, auf Spuren von (überlebten) Schwert- oder Messergefechten, die sich die Yakuza nach dem Krieg (noch) geliefert hatten.

 

   'Ein Yakuza war ich, nicht lange, fünf Jahre etwa, war mir zuviel Streß. Dann bin ich ausgestiegen. Hier, sieh meine linke Hand. Der kleine Finger hat dran glauben müssen. Er liegt wohl immer noch in einem Glas in Spiritus oder sowas im Büro meines ehemaligen Bosses. Makabre Sammlerleidenschaft. Aber er hat sie wirklich ausgestellt, diese Loyalitätsbeweise. Wahrscheinlich hast du gleich gedacht, daß ich ein Mafioso sei, so wie ich rumlaufe. Nein, heute habe ich einen freien Tag. Da zieh ich hin und wieder solche Klamotten an. Gute alte Zeit und so. Nee, ist nur ein Witz. Ich muß einfach raus aus der Arbeitskluft. Aber viele Kumpel, auch Leute, die ich nicht kenne, rufen mich dann scherzhaft oyabun oder kumichô - wie man halt einen Yakuza-Boß anspricht. Habe ich nicht ungern, muß ich zugeben. Bei den Yakuza war ich ja immer nur in der unteren Riege. Laufbursche, Faktotum für den Chef. Und als Tagelöhner ist man für die Leute sowieso nur der letzte Dreck. Aber mit diesem Habit sieht das kein Mensch. Ich gehe auch oft nach Minami, du weißt schon, das Vergnügungsviertel von Osaka. Wenn ich dort in diesem Look in einer Bar auftrete, bin ich gleich der 'Herr Direktor'. Eigentlich pfeif' ich drauf. Ich verdiene mir redlich und mit meinen Muskeln und meinem Schweiß meinen Unterhalt. Ich mag Kama. Es ist voller Käuze und verquerer Individualisten. Lauter Verlierer, Aussteiger, Gescheiterte. Keiner von uns paßt in die japanische Normal- und Normengesellschaft. Aber wir sind frei, frei sind wir! Kama - das ist unsere Hölle und unser Paradies. Kanpai! Zum Wohle!'

 

     Wieder kommen von links lauthalse Prostrufe. 'Ich heiße Hiroshi', ruft der Bebrillte, 'und du?' Seine Kollegen brüllen vor Lachen, klopfen sich auf die Schenkel und johlen: 'Heute heißt er also Hiroshi! Gut so! Hiroshi!' Kaum jemand gibt in Kama seinen wahren Namen preis, jeder hat seinen Rufnamen, sein Pseudonym oder alias. Die drei verwickeln mich in ein belangloses, leicht wirres Gespräch. ...  Andô stößt mich an und sagt: "Los, gehen wir, da kann man sich ja nicht in Ruhe unterhalten." Er hat sein Bierglas geleert und offenbar schon bezahlt. Ich nehme einen kräftigen Schluck ...., verabschiede mich von den drei gegen mein Fortgehen protestierenden Trinkgesellen und schon sind wir draußen. Die Sonne ist mittlerweilen untergegangen. Der Himmel leuchtet perlmuttfarben. Eine eigenartige Helle liegt über dem Dreieckpark, als wolle sich das Nachlicht in einer letzten Kraftaufbietung gegen die in Bälde hereinkippende Dunkelheit aufbäumen."

 

Szene 2 - Kuzuya, bataya - "Lumpensammler"

 

     An Tagelöhnerarbeit kommt mann über Arbeitsagenten, Anreißer, die in den Tagelöhnervierteln morgens mit Kleinbussen auf Kulis warten. Oder auf Bahnhöfen potentielle Arbeiter ansprechen. Sie kassieren, versteht sich, eine Kommission für ihre Dienste. Arbeit für den Tag heißt meist Baustelle. Die Bezahlung ist relativ gut, aber die Jobs sind hart. Andô ist ein Edel-Tagelöhner. Fit, des Schweißens und Stahlstangenverlegens kundig, verdient er mehr als der unqualifizierte Schaufler oder Bauschuttentsorger. Er arbeitet ein paar Tage und gönnt sich dann tagelange Freizeit. Das Gros der Tagelöhner muß hingegen froh sein, überhaupt an einen Tagesjob ranzukommen. Alt, ausgepowert, mit Gebrechen und Gebresten geschlagen, können viele keine schwere Arbeit mehr machen. Die Arbeitsvermittler schauen zuerst auf den körperlichen Zustand der Kulis. Die, die ihren diskriminierenden Blicken nicht standhalten, bleiben buchstäblich auf der Straße. Ohne Maloche kein Obdach. Die Billigpensionen der Tagelöhner werden unerschwinglich. Sozialhilfe bekommt man nur bei permanenter Wohnadresse. Die haben (Ex-)Tagelöhner nicht oder wollen sie nicht haben. Tagelöhner werden (z.B.) Leute mit Vorstrafen, Schulabbrecher, Verschuldete, Ehe- und Familienflüchtlinge oder Im-Stich-Lasser, fristlos Entlassene, Arbeitslose, Ex-Gangster, Kleinkriminelle, Gescheiterte, Ausgestoßene. Viele sind auf Untertauchstation. Gebettelt wird in Japan so gut wie nicht. Auch wenn der freie Himmel zum Dach wird: man sucht sich ein Auskommen oder sein Essen. Convenience-Stores, also 24-Stunden-Läden etwa werfen ihre abgepackten und nach Aufbrauchfrist unverkauften Jausenpakete periodisch weg. Sie sind noch tagelang bestens genießbar. Müllkübelstierlen lohnt sich auch bei Hotels, Restaurants, Supermärkten. Japan verdient alle Etikette einer modernen Industriegesellschaft im Superlativ: Wohlstands-, Konsum-, Wegwerfgesellschaft. Die weggeworfenen Menschen müssen zumindest nicht verhungern.

     Ein minimales Einkommen garantiert das Sammeln von Altwaren: vornehmlich Getränkedosen und Kartonschachteln. Die werden von Recyclingfirmen per Kilo aufgekauft. Die vermieten auch grosse Schiebekarren, in die die Pappkartons geschlichtet werden können. Viele Altwarensammler - sie heißen auf Japanisch kuzuya oder bataya - schlafen untertags mit einer Decke oder/und Plane zugedeckt in diesen Karren. Sie machen nachts ihre Aufklaubrunden.    

     "Viele bataya haben eine Tagelöhnervorgeschichte und haben sich auf das wenig einträgliche Sammeln von Altmaterial verlegt, weil ihr körperlicher Zustand die harte Baustellenarbeit nicht mehr erlaubt. ...

     Der bataya, mit dem ich gerade plaudere, gibt an, 8 \ pro Kilo Karton zu erhalten, wobei er an den Wagenvermieter 1 \/kg abliefern müsse. Momentan sei es schon gut, wenn er 2.000 \ an einem Tag zusammenkarre. ... Abnehmer-Firmen gebe es überall in der Stadt ... Die Anzahl der Schachteln sind offenbar ein direkter Spiegel der (schlechten) Konjunktur, sie habe gegen früher um zwei Drittel abgenommen. Er selber hätte vormals in Kama gelebt. In Kama seien mehrere hundert bataya unterwegs - Zahl wegen der schlechten Arbeitslage dort steigend - und zwar mit ihren kleinen Handwägen, die nicht von einer Firma stammten.

     Wenig später treffe ich einen alten Mann, der einen dieser daisha genannten 'Kleinschiebewägen', bestehend aus vier Rädern, einer Ladefläche und einem Riemen zum Pappkartonfixieren, vor sich herschiebt und über die vielen jungen Leute, die dem Nachtleben zuliebe unterwegs sind, schimpft, man komme ja überhaupt nicht vorwärts. Er öffnet ein Fach, in das das nebenstehende Restaurant offenbar an- und abfallende Schachteln steckt und flucht, daß alles schon von jemand anderem abgeholt worden sei. ... Ein Foto lehnt er ab, er wolle nicht in 'meinem' Land ausgelacht und zum Gespött werden."

 

Szene 3 - Obdachlose mit Dach und Fach

 

     Die klassischen Etappen einer bürgerlichen Absturzroute (krumme Bahnen bleiben hier ausgeblendet) waren bislang in Japan: Tagelöhnerdasein, Altwarenhökerei, Unterstandslosigkeit. Nach einer Dekade Wirtschaftsflaute ist auch dieses Schema durcheinandergeraten. Viele Obdachlose gehen/gingen nicht mehr den Weg über die Tagelöhnerei, da es einfach nicht mehr genug Tagesjobs und Baustellenarbeit gibt. Sind andere Ressourcen von Gelegenheits- oder Teilzeitarbeit (ein mächtig expandierender Sektor, der weitgehend von jungen Leuten besetzt wird und Arbeitslosigkeit verschleiert) ausgeschöpft, bleibt bildlich und manchmal faktisch nur noch die Parkbank. Unter den Obdachlosen gibt es diverse Typen: grob gesagt: die mobilen und die seßhaften. Die Mobilen sind zu Fuß unterwegs, in ein paar Plastiksäcken oder einem Rucksack ist die Habe verpackt. Die besseren Mobilen haben ein wieder mit Plastiksackerln, Decken, Regenschirm etc. vollgepacktes Fahrrad. Meist haben sie ihre Stammplätze zum Übernachten. U-Bahn-Stationen, Einkaufspassagen, Unterführungen, Brücken, Bürogebäudeeingänge, Parkanlagen. Von Seßhaften spreche ich, wenn sie beginnen, ihre Unterstände mit Brettern oder Schachteln zu markieren. Sie werden in der Folge oft zu kleinen Hütten ausgebaut. Die begrünten Streifen an den Flußufern in Tokyo und alle Beserlparks dort sind voll mit diesen Bretterverschlägen. Abgedeckt sind sie meist mit hellblauen Ölzeugplanen. In Japans Großstädten blitzen und blinken mittlerweilen diese hellblauen Bretterzeltdächer wie winzige Ersatzhimmel durch Geäst und Gebüsch aller Parks und Grünanlagen.

     Das schicke Viertel Shibuya in Tokyo ist vor allem unter Teenagern enorm beliebt wegen seiner Einkaufsstraßen mit Modeboutiquen, Schmuckständen, Eissalons und Cafés. Die Parallelwelt dazu erstreckt sich keine fünfzig Meter weg auf der anderen Seite der Yamanote-Bahnlinie, im Miyashita-Park. Dort ist ein regelrechtes Slum entstanden. Wenngleich ein sehr japanisches. Ein Hüttchen reiht sich da an das andere. Ihre "Vorplätze" sind adrett gefegt, bei einigen stehen gar die Schuhe vor der Tür oder besser der Einstiegsluke: im japanischen Haus trägt man kein Schuhwerk. Wäscheleinen, Gaskocher oder Kohlebecken, selbst kleine Generatoren für Strom oder um Wasser aus dem nahen Kanal  zu pumpen, zeugen von Findigkeit und strategischem Überlebensmut. Öffentliche Toiletten sind in der Nähe. Da kann man sich waschen, Notdurft verrichten, Kochwasser besorgen. Bei einigen Hütten sind richtige Arbeitsstätten entstanden: Berge von gepreßten und fein säuberlich zu Paketen geschnürten Aludosen zeugen vom Sammel- und Arbeitseifer der Bewohner. Leben an der Basis. Aber wie tief es sozial nach unten auch gehen mag: zwei Werte scheinen auch japanische Ab- und Aussteiger gründlich verinnerlicht zu haben, namentlich Sauberkeit und Arbeitsmoral.    

     Dennoch ist der Obrigkeit die Obdachlosigkeit peinlich. Sichtbares Elend im Wirtschaftswunderland, das hat es allzu lange nicht mehr gegeben: "... an der Art, wie Obdachlose in Japan behandelt werden, läßt sich ablesen, daß hier vor allem Repression, Delogierung und Augenauswischerei vorherrschende Richtlinien sind. Das unangenehm ins Auge fallende soziale Problem soll weggeschafft werden, will jedenfalls aus dem Blickfeld der brav arbeitenden BürgerInnen weggeräumt, versteckt sein. Der seinerzeitige Gouverneur von Tokyo, Aoshima Yukio, bemerkte im Oktober 1994 dazu: 'Die Obdachlosen sollen kapieren, daß sie für die Passanten eine Belästigung darstellen. Die 'homeless' haben eine andere Lebensphilosophie.' Der letzte etwas kryptische Satz hat die Obdachlosen ziemlich erzürnt. Wahrscheinlich hat Aoshima gemeint, daß die Auf-der-Straße-Gelandeten nicht brav arbeiten so wie die Passanten oder gar nicht arbeiten wollen und sich die Zeit müßig um die Ohren schlagen. Was natürlich nicht stimmt. Viele Obdachlose versuchen an Gelegenheitsjobs heranzukommen, sammeln recycelbaren Abfall für den sie geringfügige Verkaufserlöse einstreichen und halten sich mit allerlei Tätigkeiten wie etwa dem Verkauf von gebrauchten Telefonwertkarten an Sammler über Wasser. Wenn einem dieses bis zum Hals steht, soll man ja nicht den Kopf hängen lassen.

     Mit dem Einsetzen der Rezession hat die Zahl der Obdachlosen in Japan in einem bis dato ungekannten Ausmaß zugenommen. Laut einer an eine Privatuniversität vergebenen Studie soll es im November 1998 in Osaka 8.610 Obdachlose gegeben haben. In Tokyo's 23 Bezirken sollen sich im selben Zeitraum 4.300 im Freien Übernachtende aufgehalten haben[3]. In Osaka haben findige Arbeitslose rund um das Tagelöhnerviertel Kamagasaki begonnen, Lebensmittel und Imbißpakete, deren Ablaufdatum überschritten war und die deshalb in den Mülltonnen landeten, einzusammeln. Sie sind auch noch Tage nach Aufbrauchsfrist klaglos konsumierbar und werden in Kama um 100 Yen das Stück verkauft. In und um Kama allein logierten 3.500 Leute unter freiem Himmel. ...

     Ungefähr 200 Personen (fast nur Männer) haben sich in einem Durchgang in einem zentralen Untergrund-Bahnhof von Tokyo, in Shinjuku, installiert. Also Pappkarton-Hütten gebaut. In den Passagen zu den U-Bahn-Linien Marunouchi und Keio haben sich weitere 400 Obdachlose täglich ihre Schlafstelle gesucht. Der Bahnhof Shinjuku gehört zu den meistfrequentierten in Tokyo. Die dort logierenden Gestrandeten wurden von Hunderttausenden täglich gesehen. Lebende Mahnmale und Fanale der schlechten Wirtschaft. Unter ihnen waren Leute, die noch vor kurzem selber im täglichen Menschenstrom zur Arbeit gependelt waren. Der Polizei war besonders der Korridor 4, Westausgang, Richtung Rathaus ein Balken im Auge. Mehrfach wurde er geräumt oder dessen Räumung angeordnet. Ohne viel Erfolg. Wo sollten die Leute denn schon hingehen. Im Februar 1994 wurden 118 Pappschachteldorfbewohner vertrieben und teilweise an temporäre Unterkünfte der Stadt verwiesen. Viele wollen nicht ins Asyl. Das sei ein Gefängnis und an Gelegenheitsarbeit komme man nicht ran. Als Grund der Delogierung wurde angegeben, man wolle die Gegend verschönern. Mit Topfpflanzen und hüfthohen Barrikaden. Aber Obdachlosigkeit läßt sich nicht so einfach beschönigen und abschieben. Umfassende Maßnahmen fehlen. Also kommen die Unbehausten zurück. Zu hunderten. Scheinlösung und dies buchstäblich: eine 'Lösung' des guten Anscheins willen: Rauswurf aus den U-Bahn-Schächten.

     Am Abend des 23. Januar 1996 war es wieder so weit. Diesmal rückte eine Hundertschaft der kidôtai an. Diese Sonderpolizei ist für gewalttätige Demonstrationen ausgerüstet und macht mit ihren Helmen, Schildern und Schlagstöcken einen im Vergleich zu den abgerissenen Obdachlosen unnötig martialischen Eindruck. Die Räumung war trotz Widerstand, der durch Bürgerrechtsbewegungen unterstützten Stadtstreicher flott durchgezogen. Am nächsten Morgen wurde der Korridor mit mächtigen Wasserfontänen aus Feuerwehrschläuchen ausgespritzt. Als Grund der Räumung wurde angegeben, daß ein 250-Meter langer rollender Gehweg in Richtung Rathaus gebaut werden sollte. Der Korridor ist allerdings 800-Meter lang und das cui bono dieses 1,3 Billionen Yen-Projektes nicht ganz einsichtig. Der Rollweg sollte nach offiziellen Erklärungen für alte Leute und Behinderte konstruiert werden. Dazu bemerkte ein Betroffener zynisch: 'Was brauchen wir eine Rollpassage auf ebener Erde, da haben wir unseren Rollstuhl. Lifte und rollstuhlgerechte Rampen sollen sie mehr einbauen in das U-Bahn-Gebäude.' Wenige Wochen nach der Evakuierung hatten die Obdachlosen übrigens ihre Schachtelschlafstätten einige hundert Meter vom Räumungsort entfernt wieder aufgebaut."

     In Kyôto gibt es einen Fluß, an dem man kilometerlang entlang spazieren kann. Jogger, Radfahrer, Hundebesitzer und Liebespaare wissen das und treiben sich dort auch zuhauf herum. Reiher, Enten und andere Wasservögel tummeln sich im Kamo. So heißt nämlich der Fluß. Ob seiner Breite und Fließgeschwindigkeit dürfte man fast von einem kleinen Strom sprechen. Alle paar hundert Meter sind die beiden Ufer mit mehrspurigen Brücken verbunden. Vor einigen Jahren konnte man an den Pfeilern unter diesen Viadukten vereinzelt Decken und Schlafsäcke sehen. Unterdessen muß man sagen, sind diese per Beton überdachten Stellen dicht verbaut mit Bretterverschlägen. Ich scherze mit meinem Freund, daß ich bald keinen Platz mehr finden werde und wohl schon für meine Zukunft ein Unterstandplätzchen reservieren oder in Beschlag nehmen sollte. Ich sage das als Zaungast, aber auch als Sympathisant. Sympathie habe ich stets gehegt für gesellschaftliche Randfiguren, immer mit der Ahnung, daß man, kaum hat man sich umgeschaut, aus der Bahn bugsiert sein kann. Rumtreiber, der ich irgendwo bin, habe ich ein paar nicht verwirklichte Berufsbilder in mir von geradezu ungesunder Anziehungskraft. Barkeeper, buddhistischer Wandermönch, Straßenmusiker, Sandler gehören zu diesen Inbildern. Und Unbehaustheit ist Teil dieser Attraktion, auch wenn ich weiß, sollte es so weit kommen, ist es aus mit aller Clochard-Romantik.  

     Und doch: zu meinen heimlichen Freunden gehört ein Stadtstreicher in Kôbe mit allen nötigen Attributen: unterwegs mit Fahrrad, Gitarre und Hund, übernachtet er auf wechselnden Parkbänken und ist Selbstversorger via Mülltonne. Übrigens: in Japan stellt man Verstorbenen Dinge auf die Gräber, die ihnen zu Lebzeiten lieb waren. Dazu gehören Zigaretten, Eßwaren wie Obst oder Reisküchlein und natürlich Alkoholika. Mein Freund nun - von mir mehrfach beim Hunderlausführen beobachtet und somit bezeugt -, macht frühmorgens die Runde durch die umliegenden Friedhöfe und zecht dort fröhlich mit den Geistern, aus deren Sakegläsern und Brandy- und Whiskyflaschen er sich freigiebig bedient. Dann pennt er glühnasig mit seiner Promenadenmischung durch den Tag. Immer wenn mir Häuslichkeit und Arbeit stinken, möchte ich mich zu ihm gesellen. 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Erschienen in:

V – Vorarlberger Zeitschrift für Literatur # 9: Absturz, 2002, 108-116



[1]Dies gilt für die Zeit meiner häufigen Ausflüge in diesen Distrikt Ende der 80er und Anfang der 90er Jahre. In den folgenden Jahren fiel die Kamagasaki-Bevölkerung auf unter 20.000.

[2]Zum Text: Mit "-Anführungszeichen markierte Stellen sind Zitate aus dem in Kürze im Dietrich Reimer Verlag zu Berlin erscheinenden Buch des Autors: Japan nach Sonnenuntergang. Unter Gangstern, Illegalen und Tagelöhnern. ... weisen auf Auslassungen hin. In den Passagen hier kann ich aus Platz- und Verständnisgründen nur über mögliche Sturzflugbahnen bei MÄNNERN berichten. Naturgemäß kann ich ferner in diesem Textchen bloß sehr eng fokussierte Schlaglichter auf ein vielfältiges Problem werfen.

[3]Diese Daten repräsentieren das offiziell "Zugegebene". Sie müssen als grobe Unterschätzungen gelten.