Aus den japanischen Journalen

 

 

Dies sind Auszüge aus Journalen, in die ich über die Jahre eher launisch und unsystematisch Eintragungen gemacht habe. Sie tragen saisonale Züge und bilden stilistische und innerliche Ver- und Entwicklungen ab. Lese ich sie jetzt, staune ich über die Brüche, Klüfte und die Brücken, die jene verbinden. Erstaunt war ich zudem über die gedanklichen Wiedergänger, die wiederkehrenden Überlegungen und Motive, die so etwas wie einen mehrstimmigen Grundakkord durchtönen lassen. Es sind launige Notizen, die Gemütslagen, Tagesverfassungen, Gestimmt- und Mißgestimmtheiten widerspiegeln. Wenigstens zwei Ichs entsteigen dem Geschriebenen: ein kontemplatives, diszipliniertes und naturversessenes und ein vom Dunklen besessenes, das sich über alle Stränge Nächte um die Ohren schlägt, Leben feiert im Exzeß und verzweifelt Entgrenzung, Verschmelzung und Auflösung sucht. Was mich wohl im Innersten zusammenhält? Mein Janusskript habe ich die Journale genannt, mein Janusskript.    

 

 

Die Splitter, die schmerzlos-glitzernden Splitter im Auge, die Blitzlichter, Blitzableiter, die Glimmerstücke in der Alltagsgeröllhalde, die Diamanten unter sonst taubem Gestein: meine mich anfallenden, kurz bannenden, verzaubernden Sinneseindrücke, die Haiku-Sekunden - Tagesernte. Seelenfutter. Die kurze Belichtung - wenn schon nicht Erleuchtung. Wie etwa der von meinem inneren Ablichtegerät aufgenommene Baum vor dem marinblauen Herbsthimmel. Der Wipfel kahl, an den unteren Ästen einzelne rote Blätter, wie gerupft, Mausergefieder, Kammzahnlücken. Oder das herabfallende Laub, das munter auf eine nasse, ungewisse Reise im Fluß geht und von dannen treibt. Bunte Tupfer auf einer Drachenhaut.

 

 

Die zwei Katzen liegen dicht aneinander geschmiegt im Garten und schlafen. Die eine hat ihren Kopf nach oben gedreht und hält ihre Kehle der Sonne zum Kraulen hin. Die andere hat einen Stummelschwanz. Als ich zurück in Wien von Kurzschwanzkatzen erzählt hatte, wurde ich der Flunkerei bezichtigt. Beim ersten Anblick einer solchen, habe ich selbst geglaubt, sie habe ihre Zierde bei einem bösen Katerzank oder Unfall verloren. Langschwänzige Katzen waren, ließ ich mir sagen, aus irgendwelchem Aberglauben in Japan lange verpönt. Die Katze kam im achten Jahrhundert aus China auf die japanischen Eilande. Im darauffolgenden Jahrhundert glaubte man noch, post mortem drei Jahre als Katze im Hause von Verwandten nachzuleben. Wer mich hier wohl besuchen kam?

 

 

Kurz nach elf Uhr im wegen der Horden angesäuselter Geschäftsleute so genannten "Sake-Express": da sitze ich also in der vollgepfropften U-Bahn vor, oder besser neben einem (nicht von mir stammenden) Kotzfleck, dessen Farbe in ein blasses Safrangelb spielt, zweifellos ein halb verdautes Currygericht. Selten ist man sicherer vor jeder Intervention, vor Geschubse und Geschiebe, keiner wagt es näher zu treten, ich bin geschützt wie in einem Bannkreis, wie von einem Bannfluch. Die Fahrgäste drängen und drängeln sich an und vor die Eingangstür, und ich bin protegiert von diesem Auswurf, diesem Stoppsignal, das sicherer wirkt als jede Tränengasbombe. Vielleicht lieben die besoffenen Japaner darum einen erfrischenden Vomitus in den öffentlichen Verkehrsmitteln, weil sie dann endlich in Ruhe gelassen werden.

 

 

"Kann man sich einen Städter vorstellen, der nicht die Seele eines Mörders besitzt."                          E.M. Cioran

Das geht mir immer durch den Kopf während der Stoßzeiten oder im Inneren von Osaka, diesem überdimensionalen Termitenhaufen, in dem die Menschen umtriebig herumrennen, gestochen und vergiftet von der Ökonomietarantel, die sie zur Arbeit und zur Raserei antreibt. Wie wehrlos bin ich dann im Menschengewühl der Stadt gegen diese Mords- und Totschlagstimmung, wie muß ich in meinem Herzen sehen, wie die Aggressivität hochkriecht, eine instinktive Abwehr sich gegen zu viele Artgenossen auf einem Platz, sich eine Humanklaustrophobie in mir breit macht. Und ich denke mir: erstaunlich, daß es in Japans Megalometropolen nicht täglich ein paar Amokläufe gibt.

 

 

Ein Satz von Henry Miller fällt mir boshafterweise auch des öfteren ein, wenn ich die vor lauter blindwütiger Eile und Eifer herumrennenden Angestellten sehe: "Wenn wir wie die Wiesel leben, ficken wir wie die Wiesel." Dann schon lieber wie die Lamas, die ich einmal im Zoo beim Koitieren erwischt habe: er liegt genüßlich auf ihr und läßt sich nur alle paar Minuten maulend und röhrend zu Schubs- und Schiebebewegungen hinreißen, um dann auf ihr zu ruhen, dann zappelt er wieder ein wenig, nur um wiederum tief in ihr zu weiden und zu verharren, und dieser faule Wechsel dauert, wie man sagt, eine Ewigkeit. Ja, so in die Ewigkeit eingehen!

 

 

Spaziergang im Wald und ich sehe, ertappe und ertaste das Wesen des südjapanischen Winters: es ist Trockenheit, Ausgedörrtheit, Dürre. Die Sonne brennt durch die kalte Luft und und versengt die ohnedies schon trockene Erde, das Holz und Laub, gnadenlos. Gebleichtes Gebein das aufkommende Bild.

     Gehe an der Parkmauer vorbei. Auf ihr wächst buschig ein dünnes Gras. Jetzt im Spätwinter ist es völlig trocken und blond wie Stroh, fellig wirkt es in einem Maß, daß ich nicht umhin kann es zu streicheln und weich ist es und warm.

     Am Spätnachmittag: die Kippe. Jäh ist es kalt, das Licht ist glatt, eisig, fahl. Es ist, als schreite man aus einem erhitzten Raum ins Draußen. Und da ist die altbekannte Öde des Winters, es ist die Öde der langen Schatten, des Frostes und der überzähligen Abendstunden.

 

 

Ich bin in beiden - und damit meine ich vorläufig und ganz global die westliche wie östliche - Kulturen zu Hause, damit beiden verdächtig, ein ständiger Überläufer, Hin- und Her- und Reisläufer.

 

 

Meine Blitzlichtaufnahmen oder sind es die Blitzlichter des Tages, Gucklöcher, das Durchschaubarwerden der Dinge, momenthafte Ganzaufnahmen in interesseloser Aufmerksamkeit, Aufwachheit: die sonnendurchschienene Kamelienblüte, die lohende, mit ihren rotglosenden membrandünnen Blütenblättern, erblickt, erwischt durch die Glaseingangstür des Restaurants, wie ein Kleinod in einer Vitrine. Die durch den Asphalt gedrungenen Grashalme, zitternd im Wintermorgenwind, der Blatthochglanz in der Mittagsstille, der flimmernde getriebene Silberteller auf dem Fluß im Glast der Lichtschwelle von Nachmittag zu Abend - meine inneren Dias, die vor dem Einschlafen noch einmal kurz aufleuchten wie Sternschnuppen, bei deren Fall man sich was wünschen darf - wahre Himmelsgaben.

 

 

Im Zen-Tempel. Er ist zu einer Teezeremonie geladen. Seine Freundin ist plötzlich verwandelt, ja verpuppt in diesen Kimono, in dem sie sich elegant, im Takt und Schatten der ganzen Vergangenheit dieses Landes bewegt. Sie erklärt geduldig die einzelnen Handbewegungen und Gesten, wie das Tüchlein zu halten sei, die Süßigkeiten in Empfang und in den Mund zu nehmen, dann der bittere, der bitterlich-süße Tee zu trinken seien. Im Garten der verfärbte Ahorn; wie oft hat er ihn auf Postkarten, Kalenderbildern und die letzten Jahre in natura gesehen, überwältigend trotzdem, oder vielleicht, weil es scheint, als habe man für diesen Garten sorgsamst alle Farbspielarten zusammengestellt und gesammelt, ein Herbstfarbenpanoptikum geschaffen: vom feurigen Orange über loderndes Purpur bis zum Dunkelrot gestockten Blutes sind hier alle Nuancen zu sehen - atemnehmend. Ein Anflug des Ephemeren, vanitas wird mit jedem fallenden Blatt herübergeweht. Ein barockes Schauspiel, eine berückende Schau.

     Er steigt einen kleinen Hügel hinab, durch knorriges, von üppigem und struppigem Moos durchfilztes Wurzelwerk, und plötzlich steht sie da, gelöst, weil aus dem steifen Teekränzchen mit all den älteren und gestrengen Teezeremoniendamen entlassen, entkommen, sie steht da in ihrem rosa-orangefarbenen Kimono, es ist das erste Mal, daß er sie sieht in diesem - ja heute schon - Kostüm, und sie ist völlig eingepaßt in diese klösterliche Enklave, diese historische Nische mitten in einer geschäftigen Stadt mit ihrem Menschentreiben, da auf dieser Insel, in dieser Oase; die Farben ihres Gewandes flammen im Einklang mit dem Laubfeuerwerk und er sieht alles auf einmal: eine historische Revue von der Edo-Zeit bis in die Kamakura-Zeit, ins 13. Jahrhundert, in dem der Tee von Mönchen aus China nach Japan gebracht wurde, er sieht das uralte Zeremoniell noch einmal, tausende Male und durch hunderte Jahre hindurch zelebriert und in die Gegenwart hineingereicht in einem Schalenstaffellauf durch Generationen, alle Klischees, die Mann nur haben kann, stürzen auf ihn ein und nieder - es ist bestürzend: Madame Butterfly und Geisha-Trippelei, er wird von einem Schauer exotischer Verliebtheit durchbebt, das Japan, das imaginäre, ersteht hier wie in einer sekundenhaften Offenbarung ganz gegenwärtig und real, dieses in seinem Kopf als Fotoalbum mit längst verblichenen Aufnahmen abgelegte Japan steht hier vor seinen Augen, in dieser Frau, diesem Garten, diesem Tempel, schwelgt und schwelt noch im Pulverteenachgeschmack in seinem Mund, er kann's kaum fassen, muß sich einen Ruck geben, einen inneren Weckklaps. Und erst im Hinausschreiten auf die geteerten Straßen ist er wieder völlig da im vulgär getriebigen und vor Betriebsamkeit vibrierenden Japan des Hier und Heute.

 

 

Japans Städte sind mir, wie man so sagt, ans Herz gewachsen: aber nur nachts. Die vielen kleinen Gassen, Ecken, Lokale, Nischen, wie Mäusegänge, heimelig irgendwie, dem nächtlichen Versteckspiel angemessen.

 

 

Am Morgen danach - losgerissen von ihr und in der Bahn - diese eigentümliche, etwas dreckige Ekstase: dieses Glücksgefühlsgemenge aus Restalkohol, Übernächtigung und sexueller Verausgabung. Ich sehe die vielen Gesichter, sehe in ihnen die verletzten und verletzlichen Kinder. Unmotiviert kommt eine, ich muß es so nennen, ungeteilte Menschen- und Weltliebe in mir hoch, alle könnte ich überschütten damit, alle Frauen in den Arm nehmen. Vielleicht gibt es einen Erlösungsweg (einen tantrischen - aber lassen wir lieber die Finger von Etiketten) der übertreibenden, verschwenderischen Vereinigungen - polyphon, polyfemme, polyhomme. Durch die gerade einem beiseiende Frau hindurch in eine diese überschreitende Zuneigung zu allen Dingen hineinplatzen. Der Blick in die Gesichter der Verklemmten, Beladenen, Gefesselten: leide mit und möchte sie mitreißen, sie auffordern zum eigene und soziale Grenzen sprengenden Durchbruch, zum Potlatch, will sie mitnehmen ins Reich der Orgie - warum habt ihr nur den Tanz und das Taumeln verlernt?

 

 

Die wacholderartige Hecke, die regelmäßig wellig zugeschnitten wird, ist von Spinnweben überzogen. Sie bedecken den Heckenrücken wie kleine, filmdünne Hängematten. Nach dem Nieselregen des Morgens die Sonne: schwere Tropfenkugeln liegen in den Spinnennetzen gesammelt. Sie funkeln leuchtend weiß und transparent wie Glasperlen. Strahlende Durchsichtigkeit. Lichtmurmeln. Weltspiegel. Silberlicht hat sie ungewollt in ihre Falle gelockt und gefangen, die Spinne. Welch ein Kleinod eines Anblicks - und alle gehen achtlos daran vorüber.    

 

 

Jäh senkt sich die Abendkühle auf mich herab wie ein Segen. Die Luft riecht frisch, nach Blättern, Chlorophyll, nach irgendeiner durchsichtigen, perlenden Essenz. Die Weiden am Fluß, arg beschnitten, trauriger als ohnedies schon, wie gerupfte Vögel lassen sie ihre Flügel hängen, kein Wind trägt ihre angegrünten Strähnen. Das Wasser des Flusses ist spiegelglatt, kein Vogelruf mehr, Stunde des Übergangs, gezählte Stunde des Übertritts in eine weitere Nacht mit ihrer Brunst und ihrer Ruhe für die Braven.

 

 

Die Augen der alten Frau haben diesen bei den Betagten aller Länder zu sehenden matten Schimmer wie in quarzhaltigem Flußkiesel, elfenbeinern ein wenig, blicklos fast, oder so, als würden sie aus einer anderen Welt hersehen. Die Haut ihrer Hände war schon wieder glatt, wächsern glänzend. Sie saß am Fenster und sah hinaus auf das Treiben: sah die vorbeirasenden Autos und gewagt miniberockten Mädchen - und jetzt noch einen Ausländer mit Hut. Wahrscheinlich verstand sie die Welt nicht mehr.

 

 

Auf der Fahrt von München nach Bregenz steigen mir alle Kindheitsdüfte in die Nase, das Heu, die würzige Bergseeluft, selbst den Bärlapp glaube ich herauszuschnüffeln, fern und fein, wie es solche Odeurs an sich haben und durchdringend vertraut zugleich. Wie Opiumdämpfe, Rauschdrogenschwaden benebeln sie und schärfen sie meine Sinne, erwecken mich und wecken Bilder, alle erdenklichen oder schon undenkbar gewordenen, in mich versenkte Bilder wie Dornröschenträume: da sehe ich mich Milch mit einer großen Kanne beim Nachbarbauern holen, sehe schmerzlich die verlorene Zeit im Barras, unreif, beflaumt und verletzbar von all der Vulgarität, Dumpf- und Stumpfheit, der ich in diesem Menschenpfuhl ausgeliefert war, schlecht vorbereitet durch den gymnasialen Bürgersöhnchenumgang. Ich sehe in der Seepromenade mein einst aussichtslos und unsterblich geliebtes Mädchen wandeln, jung, unberührbar wie eine Fee - welche Wendungen mein Leben wohl genommen hätte, wenn ich mit ihr zusammen geblieben wäre? Ich sehe mich auf den Feldern tollen - wo ist dieses Ich geblieben, das da versunkene Facetten aufscheinen läßt wie Pastelltöne in einem Gemälde, kurz beschienen, leuchten sie auf wie Wellenblinken und verschwinden wieder, aufgelöst im Farbenmeer meines Inneren, das schillert wie ein Opal. Verloren, ach verloren - so der wiederkehrende Aufschrei Thomas Wolfe's in seinen Recherchen über sein Herkommen. Verloren, ach verloren!

 

 

August in Wien. Kälteeinbruch. Der Himmel unerbittlich, hoffnungslos bedeckt mit tief hängenden bauschigen grauen Wolken, dazwischen blendend weiße Streifen, ein heftiger Wind, der diesen drückenden Plafond verschiebt und alle paar Stunden dichtes Nieseln herbeiweht. Es ist trüb und düster, die Straßen sind nahezu leer. Ein paar ältere Damen im Wintermantel kreisen mürrisch und muffig im Park herum, um ihre Hunderln Gassi zu führen. Das Klagen der Turmfalkenkinder, die wie zwei Stuckdekorationen in einer Dachluke sitzen und minütlich ihr irres Getriller losschrillen lassen, ihr Klagen vibriert elektrisierend in der Luft, gespenstisch wie Totenvogelgekreisch. Die elende, Lebenshelle stehlende Gräue dräut und hängt zwischen den eintönigen und bröckelnden Fassaden der Gründerzeitzinshäuser, ein Spuk wie in jähem Duster vor einem Gewitter. August. Um Himmels willen, denke ich mir, Urlauber, der aus dem flirrenden Südlicht Japans kommt, wie wird das nur im November! Und ich sehe schon die kurzen Tage, das am Spätnachmittag in den Nebel hereinkriechende Dunkel. Ich höre das Rauschen der Bäume - sie rauschen in den Herbstböen wirklich wie Bäche, Wasserfälle - sehe das Blättertreiben und verstehe bestens und spontan, warum einst das Lied "Trauriger Sonntag", das sich in unerlösten Oktaven in die höchste Melancholie hochschraubt, verboten war. Angeblich, weil zu viele Selbstmorde nach dem einsamen Anhören desselben geschehen sind. Jaja, Sonntag ist heute, trauriger Sonntag.

 

 

Morgens im Café, Nähe Boul' St. Germain. Und plötzlich beginnen die Rinnsteine zu gurgeln, zu sprudeln, silbern blitzende Flüßchen kullern den Trottoirrand entlang. Und ich kann Paul Nizons jugendliche Begeisterung für dieses Quellen und Fluten verstehen. Eine Taube badet, schüttelt, plustert sich wohlig in diesem aus der Pariser Unterwelt hervorplätschernden Wasserstrom.

 

 

Ja, die Pariser Cafés: da sitzt man wie in einer Theatergalerie, einer Beobachterloge und betrachtet das Treiben, die Menagerie, die Verrückten, die auf den Straßen abwechselnd Monologe und Publikumsbeschimpfungen regelrecht vor- und aufführen. Und die Pariserinnen defilieren selbstbewußt und wissend, daß sie unter Observation stehen, vorbei, sie lassen sich taxieren von den Männern, die den harmlosen Sport des Frauenbegutachtens betreiben - und genießen es. Wie sie her- und wegblicken, dreimal, wenn sie jemanden attraktiv finden, ach, ihre Art die Lider hochzuschlagen, nachzublinzeln, nachzublitzen im Vorbeigehen. Auch auf der Straße: ständiger Blickkontakt - ich komme aus einem Land, in dem das so gut wie nie geschieht - richtiggehend offensiv, aber absichtslos, und das wohlwollend Ansehen wird im genau rechten Moment abgebrochen, bis auf die gefährliche Spitze des "jetzt muß ich was sagen" getrieben und kurz davor aufgegeben. Man ist hier ständig einem warmen Schauer, einem Blickregen ausgesetzt, wie wohltuend nach den erotischen Eiswüsten, die japanische öffentliche Orte und Städte nun mal sind.

 

 

Zurück in Kôbe

Der Sandler unter der Brücke: er sitzt an den Pfeiler gelehnt, ordnet seine Habseligkeiten, faltet Decken zusammen und starrt dann vor sich hin. Es regnet heftig, und er hat sich wohl an diesen trockenen Fleck verzogen, gerettet. Ein Entsprungener, Versprengter, Verfolgter? Sein Gesicht ist bis zu den Augen mit einem schmutzigen, dunkelgrauen Wolltuch verhüllt. Um den Kopf hat er sich auch einen Lappen gewickelt - es sieht fast so aus wie die Schirmmütze, die wir als Kinder im Winter trugen, und die wir bei beißender Kälte übers Gesicht herabziehen konnten, wobei ein Sehschlitz freiblieb und der Mundteil vom warmen Atem feucht wurde. Richtige Ganovenmasken waren das. Und der Mann hier, gesichtslos, wollte er sich vor Scham über seinen Abstieg verstecken vor den Blicken, der von der Arbeit Heimkehrenden - oder war seine Visage gar auf einem der Fahndungsplakate, die in den Polizeistationen hingen? Oder hatte seine Familie - hat er eine? - ein altes Foto, ein Suchbild, in Umlauf gebracht, mit der Bitte, er, der Verschollene, möge sich mit seinen Angehörigen in Verbindung setzen (wie man es im Tagelöhnerviertel allenthalben sieht). War er vor Schuldnern geflohen? Oder vor einer zeternden Megäre geflüchtet oder "einfach" arbeitslos geworden?

 

 

Die Frau in der Einkaufspassage: sie trägt einer dieser geschmacklosen Schlapphüte, die herabhängen wie ein Wärmehäubchen für Teekannen, eine dunkle Sonnenbrille und üppig aufgetragenen Lippenstift. Eine Hetäre, geht es mir durch den Kopf, wie ich ihre schlechterdings geil wirkenden Gesichtszüge und Mundwinkelfalten sehe - und eine Haut, als wäre diese von zwei und nicht von einem Leben gegerbt, dazu füllige Körperformen, die von ihr mit plumper Grazie vorwärtsbewegt werden -  dermaßen verlebt und verbraucht auszusehen, denke ich mir, braucht auch eine Art von Talent oder Wagemut.  

 

 

Tod in Nanba/ Osaka

Häusertäler, Neongeflimmer, Pachinkohallen-Hämmern, Rattern, Tosen, Menschenströme, Getümmel Lebensprozession. Auf dem kalten Asphalt der ausgemergelte, mit schmutzbefleckter abgetragener Kleidung befetzte Mann, Stadtstreicher wohl, Wangen eingefallen, alle Glieder von sich gestreckt, reglos. Kein Hauch Atem, die Brust flach und odemlos, brettsteif. Das Weiß seiner halbgeschlossenen Augen gähnt leblos ins Leere. Leute umkreisen ihn, umstellen ihn, angehalten vom Sog der plötzlichen Stille. Ruhepol im Tanz, nacktes, grausames Auge des Orkans, Tod mitten im wimmelnden Leben. Es ist wie im Innern einer Trommel. Aufstiegstunnel zum Himmel oder Brunnenschacht zur Unterwelt? Herzschlagverstörend stockt der Atem und wird tief eingesogen - prämienlose Lebensversicherung. Noch bin's nicht ich, sind es nicht wir ... und doch schwebt über uns das Signal - der Abruf. Zwei Krankenwagenleute kommen mit einer Bahre, kein Puls mehr, der Abgelebte wird auf die Trage gesenkt, wehrlos wie ein Sack, abgeführt, abgeschoben, aus den Augen genommen. Das Treiben geht weiter, aber unschuldig nicht mehr, eingebrochen ist das Andere, rücksichtslos grinsend, mit dem Finger auf alle Zeugen zeigend.

 

 

Sie sind nicht erotisch, aber nahezu ausnahmslos mit höchster Perfektion geschminkt und kosmetisch zugerichtet, die Mädchen, die mir in den Einkaufsstraßen begegnen, mit solcher Regelmäßigkeit und Vorhersehbarkeit geschminkt, daß mir das Fehlen dieser Gesichtsmalerei und Maskerade geradezu zu einem Alarmauslöser, einem Code wurde, der mir sagt: diese Frau ist etwas Besonderes. Aufregend diese Ungeschminktheit!

 

 

Wenn ich so recht zu einem Exzeß aufgelegt bin, müßte man mich zuweilen in Schutzhaft nehmen.

 

 

"Wenn man die Menschen beobachten will, muß man sich in seiner Umgebung umsehen; will man jedoch den Menschen erforschen, so muß man seinen Blick in die Ferne richten; man muß zuerst die Unterschiede beobachten, um die allgemeinen Eigenschaften zu erkennen."                                 Rousseau

 

 

Heftiger Regen, die Straßenlampen werden im Wasser des Flusses gespiegelt: da hüpfen die Regentropfen in einem Lichtfunkenspiel, als würden Hunderte von Wasserläufern ein Tanzfest veranstalten ... .

 

 

Der Fluß, anakondafarben, schlägt mir einen nassen und wohltuenden Wassergeruch in die Nase, aromatisch, schlammig und tangig.

 

 

Nicht die Sehens- die Trinkwürdigkeiten eines Landes erkunden!

 

 

Wolkenlücke: und die Sonne fährt in die gelb verfärbten Gingkobäume und entfacht ein bengalisches Feuer. Die Gingkofackeln: Lichtbündler, sammeln, rauben gierig Licht und strahlen es aus wie Parabolspiegel.

 

 

Habe ich heute morgen so gesehen: und ein tolles, tollkühnes Wort dafür (muß man sich auf der Zunge zergehen lassen): Bachstelzenbauchblitz.

 

 

Sehe ich die Sumpfzedern sich verhalten ihr kupfernes Herbstfederkleid anlegen, fällt mir ein, wie ich sie im Vorjahr beschrieben habe, sie und die Kamelien, die jetzt zu blühen beginnen. Meine Notizen - Führer durchs botanische und sonstige Jahr, Erinnerungsstützen und -beschützer. Wieviel größer ist doch unser Vergessensvermögen als unser Erinnerungsvermögen!

 

 

Gérard de Nerval bemerkte einmal, für eine Person, die den Orient nie gesehen habe, sei ein Lotos immer noch ein Lotos, für ihn hingegen nichts als eine Art Zwiebel.

 

 

Es regnet. Dampf und Dunst trübt die Fernsicht. Die Kirschblüten hängen betropft und schwer nach unten. Ihre Luftigkeit und Daunenleichtigkeit bleibt ihnen wenigstens im Blick aus der Weite unbenommen. Es ist kühl, mich fröstelt. Jäh verwandeln sich die weißen Kirschbäume in Schneeballträger. Am Abend die röhrenden, greinenden Nebelhörner aus dem Hafen. Machen mich fernwehleidig.

 

 

Warten an der Haltestelle. Ein Bus fährt vorbei, vollbesetzt mit jungen Mädchen, wohl auf kleiner oder großer Klassenfahrt. Eines beginnt damit, bis plötzlich alle dem Ausländer lächelnd zuwinken. Der steht da, sieht ihre Fächelbewegungen, dieses Händegeflatter wie eine Filmsequenz ohne Ton. Der Bus fährt an, er hebt die Hand, ein Winkjubel antwortet ihm stumm - eine kollektive, ungerufene, unnötige Sympathiekundgebung - sein Tag ist gerettet.

 

 

Einstimmung, Eingestimmtheit, eine wundersame, ungerufene, wahllose, seltene und seltsame Weltliebe wallt in mir auf, strömt durch mich hindurch - weiß ich, woher diese Augenblicke der Begütigung, wie ich sie nennen will, herstammen - es ist ganz unzweifelbar etwas Größeres als (mein) "Ich" hier anwesend. Ja, die Begütigung ... könnte man immer diese Güte in sich spüren! (würde man davon geblendet oder daran verglühen?) Aber die Flauheit des Leerseins kommt so sicher wieder wie die Nacht. 

 

 

 

An der Bushaltestelle die alte Frau, die mir im Aufblick direktgehend einen Schreck einjagt: steckendürr und tatsächlich auf einen Stock gestützt, steht sie da, versteift, aber aufrecht, ein grünes, geblümeltes Sommerkleid lottert und baumelt an ihrem Skelett herunter wie an einer Vogelscheuche - und das Gesicht: Rillen wie in einer Walnußschale, die Hand: olivengrün und ein verpatzter, dunkelroter Lippenstift trieft nahezu von den ausgetrockneten, geschrumpelten Lippen wie um die Groteskerie zu vervollständigen. Ich wage nicht, noch einmal hinzusehen. Zu Hause in meinem Zimmer höre ich den Steinmetz vom Friedhof her einen Grabstein beklopfen.

 

 

Gott sei Dank gibt es noch andere Überraschungen: da gehe ich die Straße hinunter nach stundenlangem Brüten in meinem Zimmer und sehe vorerst nur den Schemen, die Figur, gefährlich kurvig, Frau, ganz Frau, bin schon alarmiert, und wie wir uns näherkommen, schnellt mein Blutdruck in riskante Höhen: une pulpeuse, eine Pummelige ja, aber auf die bezauberndste Weise, gerade richtig ausgeformt, zwei erhebende Brüste, Kegelkugeln, kräftige Schenkel, saftiges Gesäß und ein liebes Gesicht, "Bonjour Mademoiselle" schreit es in meinem Kopf, aber nichts kommt über die Lippen, verdammt nochmal, das nächste Mal bestimmt, sage ich mir wie immer, und sie macht noch diese süße Schnute, sie hat mich also mit Wohlwollen registriert, klimpert mit ihren Schlüsseln, wie um mir zu signalisieren, daß sie hier wohne, in dem Wohnblock gleich links ... werde meine Spaziergangrouten ändern müssen!

 

 

Indien ist und bleibt mein Land in Asien auf meiner inneren Landkarte. Schon wenn ich nur an diesen spirituellen Übermut der nachvedischen Philosophen und psychosomatischen Akrobaten, an die Gymnosophisten, an diese spirituellen Giganten und Himalaya-Bezwinger des menschlichen Geistes denke, da wird mir ganz schwindlig vor Begeisterung.

 

 

Welche Eintracht, Versöhnung, Ataraxie in mir nach einer gut durchlebten, das heißt heiß durchliebten Nacht mit einer Schönen, nach diesem Teilen und Aufheben des Geteilt-Seins nachklingt. Eine schon fast einfältige, grundlose Welt- und Menschenliebe, als wäre ich erst eben aus dem Paradies gefallen, unbefleckt, unschuldig, des Bösen unkundig, so eine All-Liebe durchtönt und wärmt mich. Wenn ich dagegen nur schon die Mundwinkel der Moralisten sehe, weiß ich, daß sie unrecht haben.

 

 

Der Fluß im Regen: wie gesiebt - die Tröpfchenlöchlein, tanzend, verschwindend, neu aufperlend - ob die Fische wohl ein Trommelsolo hören?

 

 

Frühabend, meine Zeit, ein heller Sichelmond am Himmel, der mich hartnäckig im Fluß schwebend, auf meinem Spaziergang begleitet. Kleine Fische sind es, Fischlein, die springen und winzige Quecksilberkrater ins Wasser bohren. Der Himmel vollgeflattert von Fledermäusen, die unermüdlich auf und ab schaukeln. Wie gerne würde ich eines dieser possierlichen, kuscheligen Tierchen an das Fensterbrett vor meinem Arbeitszimmer hängen, quasi anstellen, um mir jeden Abend die Quäl- und Stechgeister der Moskitos vor der Nase wegschnappen zu lassen. 

 

 

“Der Wein hat mehr dazu beigetragen, die Menschen Gott anzunähern als die Theologie. Seit langem haben die traurigen Trunkenbolde – gibt es denn überhaupt andere? – die Eremiten übertroffen.”           (E. M. Cioran)

 

 

 

 

 

 

Gekürzt erschienen in:

Literatur und Kritik, März 2002, 69-73