Wolfgang Herbert

 

Jedes Wort ein Treffer: Paul Nizon's neueste Confessiones.

 

     "Nur kein Kanal, nur kein vortrassierter Schienenstrang, nur nicht die Macht der Gewohnheit." Davor und vor mehr läuft der Protagonist davon, um nicht "in eine Geschichte hineinverhaftet zu werden", wie Nizon andernorts notiert oder einfach: um nicht stehen, um lebendig zu bleiben. Um nicht im Schnee zu erfrieren, wie an einer Stelle unverkennbar auf Robert Walser angespielt wird. Wie dieser spinnt er kein kompliziertes Handlungsgarn. Er geht auf Bilderfang. Im Hund  strolcht ein Walser'scher Stromer und Streuner durch Paris und durch die Sprache. Oder mehrere? Beschrieben sind ja einige zwielichtige Spiegelgefechtsgestalten, Abspaltungen, Projektionen des Autors, die ihn unerbittlich verfolgen wie Stalker oder Geheimdienstler. Und der Hund natürlich. Dem hängt er ständig in Gedanken nach, dem Hund, den er selbst abgehängt, verlassen hat. So beschreibungspotent, wortreich und präzis tut er dies, wie es nur ein Hundemarottenkenner und Sprachkünstler kann.

     Aber es geht nicht nur um den Hund. Es geht um die Beichte. Um Nizon. Wie immer bei ihm, ist man versucht zu sagen. Ja, aber wie immer bei ihm: neu, frisch, jung, aufregend, anregend, tonisierend und Sprache intonierend. Im ganzen Buch ist er da und doch nie greifbar. Er, der Stadtstreicher und -streichler, jagt sich in verschiedenen Gestalten und (abgelegten) Rollen, die ihm die Bühne Paris vorführt. Filmartig rollen die Szenen ab, die bei aller Heterogenität bruchlos geschnitten sind und in ein farbenprächtiges Tableau gerinnen. Erinnerungen, Observationen, Obsessionen und Visionen werden kunstvoll ineinanderverwoben. Und dazwischen gibt es ins Leserauge gestreute Zeitungsgreuelmeldungen. Lauter Umkippgeschichten oder -bilder, Lebensbahnentgleisungen. Sie stehen da, um die eigene Gefährdung zu bannen, die Copycat-Versuchung zu exorzieren. Dabei ist der Erzähler selbst ein Ver-, vor allem aber Entkommener. Sein eigenes Aus-der-Bahn-Geworfen-Sein registriert er mit unverhohlener Fröhlichkeit. Um Freiheit und Befreiung geht es ihm. Dazu führt das Buch denn in Versuchung. Das ist sein unterschwelliger Zauber, seine Magie. "Ich habe jede Witterung aufgenommen, wenn sie den Duft der Verführung enthielt", heißt es bei Nizon. Das will man dann auch gleich tun: aufstehen und die Nüstern sträuben. Der Duft des Buches, sein Atem, ist Lebensfreude und Unbeschwertheit. Nie gestillter Aufbruchsmut.

     Formal und inhaltlich und in der geradezu akrobatischen Komposition schließt Nizon mit dem Hund  am ehestens an seine Caprichos (Im Bauch des Wals, 1989) an. Nur daß er sein Schreiber-Ich noch weiter aufdröselt, konsequenter in Doppel-, ja Mehrfachgänger, bisweilen gar Wiedergänger auflöst. Und an der Leine des Hundes zusammenführt oder abführt. Herrchen und Hundchen werden sich im Laufe der Zeit (des Buches) ja immer ähnlicher, heißt es. Und der Schluß ist ein erlösender Showdown, eine Eröffnung, in deren Licht man das Buch noch einmal von vorne lesen möchte. Was nicht schwerfällt, bei der Schönheit der Sprache, die allein schon ein Vergnügen ist. Eine Droge. Die Sprache war immer Nizon's Domäne und werkdominierend. Sie ist bei ihm nie konventionell, immer aufs neue überraschend - auch wenn sie, verglichen mit früheren Schriften, im Hund reduziert wirkt: stets treffsicher, metaphernfreudig. Exuberant, überbordend, beschwörend war sie im Canto (1963), zurückgenommener, aber immer von bestechender Schärfe dann in Untertauchen (1972) oder Stolz (1975). Paris, die Frau und das Schreiben (also Sprache, ergo Schöpfung) beherrschten im hymnischen Das Jahr der Liebe (1981) das Werkziel. Diese Topoi blitzen im Hund auf, aber in merkwürdig nüchterner oder ernüchterter Form, wie Nizon sich überhaupt sehr zurück- oder im Hintergrund hält. Souveränität fällt mir dazu ein. Dem Schreiben und auch sich selbst gegenüber. In seinem Journal (Die Innenseite des Mantels, 1995) schreibt Nizon: "Im Unterschied zum papierenen Fabrikat als Informationsträger oder was immer ist eine Schöpfung mit dem eigenen Atem begabt und also eigenlebendig, selbstversorgerisch und wunderbar kraft eines eigenen Kapillarsystems, kurz: überlebensmächtig. Mit Leben ansteckend, überwältigend, rebellisch, verwirrend - ein Appell." Das alles, würde ich meinen, wird vom Hund apportiert. Was die Leser angeht, kann ich nur sagen: Faß, Hund!

 

 

Paul Nizon: Hund. Beichte am Mittag. Frankfurt a.M.: suhrkamp 1998, 148 S.

 

 

P.S.: Alle Bücher Nizon's sind im Suhrkamp-Verlag erhältlich. Paul Nizon, geb. 1929 zu Bern, lebt und schafft seit über zwei Jahrzehnten in Paris. Es wäre an der Zeit, daß er nicht nur in Frankreich wirklich gelesen und gelobt wird.

 

 

 

 

Erschienen in:

Kultur. Zeitschrift für Kultur und Gesellschaft 14/1 Februar 1999, 52